SENIOREN : Die Last vieler Jahre
Altersbedingte Einschränkungen müssen kein Schreckgespenst sein
Wenn Barbara Fleck früher neue Mitbewohner in ihrem Haus begrüßt hat, konnte sie davon ausgehen, für viele Jahre mit ihnen zu arbeiten. Heute hat sich die Geschäftsführerin eines Dresdner Seniorenzentrums daran gewöhnen müssen, dass viele ihrer neuen Klienten nur für ein oder zwei Jahre in der Einrichtung leben werden - und dann versterben. "Wir haben natürlich auch Senioren, die hier lange Jahre leben", sagt die 62-Jährige, "aber grundsätzlich hat sich das Bild extrem verändert." Früher seien alte Menschen in das Altenpflegeheim gezogen, weil sie unter körperlichen Defiziten - insbesondere in der Motorik - gelitten hätten und sich deshalb nicht mehr selbst versorgen konnten. "Heute sind unsere Bewohner deutlich älter, wenn sie kommen. Und etwa 80 Prozent von ihnen leiden an Demenz."
Sie verbringen hier einen Lebensabend, den sich so wohl die wenigsten Menschen wünschen: auf Hilfe und Versorgung angewiesen und nicht mehr selbstbestimmt. Das Altern zeigt sich hier von seiner unbarmherzigsten Seite. Doch der Blick auf die Zahlen offenbart: Mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland, die älter sind als 65 Jahre, lebt in Mehrpersonenhaushalten, ein Drittel lebt allein und nur rund vier Prozent werden in stationären Pflegeeinrichtungen versorgt. Immer beliebter werden Formen des gemeinschaftlichen Wohnens, etwa in Wohngemeinschaften oder Mehrgenerationenprojekten.
Ganz grundsätzlich aber bedeutet Altern biologisch vor allem eines: Verfall. Schon nach der Wachstumsphase, die in der Regel nach zwei Jahrzehnten abgeschlossen ist, setzt der ein; die Regenerationsfähigkeit der Zellen nimmt - individuell in unterschiedlichem Maß - ab. Dieses physiologische oder auch primäre Altern führt dazu, dass die Funktionstüchtigkeit des Körpers abnimmt. Dazu kommen Faktoren des sekundären Alterns: Individuelle Einflüsse von außen wie Krankheiten, Umweltfaktoren oder Lebenswandel wirken sich auf den Allgemeinzustand eines Menschen und seine Lebenserwartung aus.
Alterserscheinungen In den verschiedenen Geweben des Körpers verlangsamt sich im Verlauf des Lebens die Fähigkeiten zur Regeneration, weil Zellen sich langsamer teilen oder absterben und nicht ersetzt werden können. Besonders verbreitet sind Alterungserscheinungen der Sinnesorgane. Weil die Linse des Auges im Lebensverlauf an Elastizität verliert, nimmt die Fähigkeit ab, scharf zu stellen; Altersweitsichtigkeit ist die Folge. Auch Netzhautschädigungen wie Makuladegeneration oder "grauer Star" genannte Trübungen der Augenlinse oder "grüner Star" genannte Beeinträchtigungen des Sehens durch einen erhöhten Augeninnendruck sind klassische Alterserscheinungen.
Lärmbelastungen im Lauf des Lebens lösen bei vielen Menschen eine Altersschwerhörigkeit aus. Durch den Verlust von Sinneszellen auf der Zunge und in der Nase nehmen Geruchs- und Geschmackssinn ab, ein veränderter Hormonhaushalt sorgt insbesondere bei Frauen für mehr oder weniger starke Beeinträchtigungen. Sowohl bei Männern wie bei Frauen steigt durch Hormonumstellungen die Gefahr für einen erhöhten Blutzuckerspiegel und damit das Risiko, an Diabetes zu erkranken. Der verlangsamte Zellstoffwechsel ist dafür verantwortlich, dass die Haut ihre Elastizität verliert; gleichzeitig nimmt im Verlauf des Alterungsprozesses das Herzschlagvolumen ab und Ablagerungen und Verengungen in den Blutgefäßen nehmen zu: Die Gefahr für Herzinfarkte oder Schlaganfälle steigt. Die Muskelmasse schwindet, Bänder und Sehnen nutzen sich stärker ab, als sie repariert werden können, Veränderungen des Immunsystems lassen den Körper anfälliger für Krankheiten werden. Durch Ergbutveränderungen in den Zellen steigt im Alter die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken. Die Nervenfasern leiten mit zunehmendem Alter Impulse langsamer weiter, daher kann das Gehirn Informationen nicht mehr so gut verarbeiten wie früher.
Viele dieser Alterserscheinungen können mit Therapien, Hilfsmittel und Medikamente gemildert werden, wirklich aufhalten lassen sie sich aber nicht. Häufig treten auch verschiedene Erkrankungen gleichzeitig auf, Fachleute sprechen dann von Multimorbidität.
Die wohl gefürchtetste Auswirkung des Alterns ist die geistige Degeneration: Die Gefahr, an Demenz zu erkranken, steigt ab dem 65. Lebensjahr deutlich. Statistisch ist bei den über 85-Jährigen jeder Fünfte davon betroffen, bei den über 90-Jährigen jeder Dritte. Das Absterben von Nervenzellen im Gehirn und die Schädigung von Hirngewebe geht mit dem Verlust des Gedächtnisses sowie des Denk- und des Orientierungsvermögens einher.
Je nachdem, wie ausgeprägt diese körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen sind, können sie dazu führen, dass Betroffene behindert sind in der Definition des Sozialgesetzbuchs: Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, ihre geistigen Fähigkeiten oder ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
»Abscheulich« Die Frage, ob sie durch ihr Alter behindert ist, verneint Elisabeth Müller - auch wenn sie ihr eigenes Altern "gelegentlich wirklich abscheulich" findet. Dass sie 76 Jahre alt ist, ist der Sächsin nicht anzusehen, schlank und gepflegt, wirkt sie in einer engen Jeans und einem bunten T-Shirt mindestens zehn Jahre jünger. Dennoch möchte sie über den Frust, den ihr das Altern häufig beschert, nur unter geändertem Namen sprechen. "Es ärgert mich oft, dass vieles einfach nicht mehr so geht wie früher, dass ich nicht mehr so belastbar bin. Mein erstes Enkelkind ist jetzt zwölf, mit ihm konnte ich noch auf dem Spielplatz toben, als er klein war. Meine Enkelin ist ein paar Jahre jünger, da fiel mir das schon deutlich schwerer. Und wenn ich die beiden mal gleichzeitig bei mir habe, bin ich am Abend vollkommen erschöpft. Mir fehlt die Energie, die ich früher hatte." Mit vielen Alterserscheinungen habe sie sich gut arrangiert - die Haare werden gefärbt, die Falten überschminkt, der graue Star wurde vor zwei Jahren operiert. "Aber ich habe Arthrose in den Zehen, das schränkt mich stark ein, weil ich oft nur mit Schmerzen laufen kann."
Dennoch gehört Müller zu den Senioren, für die das gilt, was das Robert-Koch-Institut in einem Report vermerkt hat: "Da Personen trotz vorhandener Erkrankungen oder Einschränkungen in der Mobilität ihre eigene Gesundheit häufig noch als gut bewerten, decken sich oft subjektive Gesundheit und objektiver Gesundheitszustand im Alter nicht." Dass sich gerade diejenigen mit dem Alterungsprozess schwerer tun, die wie Müller immer sehr fit waren und auf sich achten, ist eine Erfahrung, die auch Thorsten Stellmacher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gerontologische Forschung in Berlin, gemacht hat: Wie Menschen ihr Altern empfinden, sei auch abhängig davon, wie stark die damit einhergehenden Veränderungen für sie sind . "Wir sehen häufig, dass gerade die, die immer fit waren, Sport getrieben und gut auf sich geachtet haben, sich damit schwer tun. Die Veränderungen der Leistungsfähigkeit sind für diese Menschen oft sehr schmerzhaft, sie empfinden das als großen Verlust." Menschen hingegen, die etwa ihr komplettes oder große Teile ihres Lebens mit Behinderungen gelebt haben und gezwungen waren, Einschränkungen zu kompensieren, gelinge das im Alter oft deutlich besser als anderen.
Prävention Grundsätzlich allerdings gelte: Die Beeinträchtigungen des Alterns seien immer auch stark von den Umständen abhängig, in denen jemand lebe. Der sozioökonomische Stand habe viel Einfluss darauf, wie fit und gesund Menschen alterten; körperlich belastende Berufe und belastende Lebensumstände führten in aller Regel auch zu schwerwiegenderen Alterungserscheinungen.
Auch Ursula Müller-Werdan, Direktorin der Klinik für Geriatrie und Altersmedizin der Charité in Berlin, sagt: "Alter bedeutet nicht automatisch Behinderung." Man wisse heute viel besser als früher, dass etwa Gebrechlichkeit keine automatische Folge des Alterns sei: "Hier gibt es bei den Ursachen eine erhebliche Variabilität. Faktoren wie Wohlstand, Bildung oder Hygiene spielen eine gewichtige Rolle." Zudem: Durch Prävention lasse sich vieles verhindern, das Menschen in ihrer Lebensführung behindern könne. "Gerade im Bereich der Mobilität können Bewegung und gezieltes Training starken Einschränkungen vorbeugen. Und im Bereich der Demenz ist belegt, dass soziale Faktoren schützend wirken können." Faktoren wie Bildung oder auch die Vermeidung von Fettleibigkeit wirkten ähnlich. Experten gingen davon aus, dass etwa ein Drittel der dementiellen Erkrankungen vermeidbar seien, erläutert Müller-Werdan. Das Alter müsse kein Schreckgespenst sein.
Hinzu kommt ein Weiteres: Müller-Werdan erzählt, dass sie in ihrem Klinikalltag immer wieder erlebe, "dass ich bei der Visite einen schwerstkranken Patienten mit mehreren gravierenden Diagnosen frage, wie es ihm geht, und er mit sagt: eigentlich ziemlich gut". Viele Hochbetagte hätten die Gabe, "dass sie das Glas einfach als halb voll empfinden und den Anspruch von Alles oder Nichts, der jungen Menschen häufig zu eigen ist, hinter sich gelassen haben. Das scheint mir sehr wirkungsvoll für das Gefühl, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen."
Die Autorin ist freie Journalistin in Dresden.