Risiko für Schwangere : Ein Glas zu viel
Wenn Frauen in der Schwangerschaft trinken, kann das Baby schwere Schäden erleiden. Die Langzeitfolgen sind dramatisch.
Die junge Mutter hat an diesem Tag wieder alle Hände voll zu tun, Kinder wuseln um sie herum und wollen organisiert werden. Geduldig kämmt die Mutter Haare und beantwortet Fragen. Das Familienbild wirkt auf den ersten Blick normal, vertraut, aber die Mutter hat ein gravierendes Problem: Zwei ihrer drei Kinder sind beeinträchtigt, bei ihnen wurde das Fetale Alkoholsyndrom (FAS) diagnostiziert, nur das jüngste Kind ist gesund.
Selbstkritisch blickt die Frau zurück auf die Zeit, als sie in einer Kneipe gearbeitet hat und regelmäßig Alkohol trank, auch dann noch, als sie schwanger war. Nun ist sie entschlossen, alles für ihre Kinder zu tun, um ihnen ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen.
Viele Mütter wollen den fatalen Zusammenhang nicht wahrhaben
Dass die Mutter ihren Alkoholkonsum während der Schwangerschaft öffentlich gemacht hat, ist ungewöhnlich und nötigt Respekt ab. Das findet auch der renommierte Berliner Kinderneurologe Professor Hans-Ludwig Spohr, der die Familie betreut hat und sich schon lange mit der sogenannten Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD) befasst. Er weiß genau, was für ein Tabuthema das ist.
Viele Mütter wollen den Zusammenhang zwischen den Schädigungen der Kinder und ihrem eigenen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft nicht wahrhaben oder bestreiten ein problematisches Verhalten. Bei der schwierigen Analyse eines sehr vielfältigen Krankheitsbildes sind die Aussagen der Mütter zu ihrem Verhalten in der Schwangerschaft oder Hinweise Dritter hierzu ein wesentlicher Faktor.
Sogenannte "Alkoholkinder" haben oft typische äußere Merkmale
Spohr nutzt darüber hinaus ein Punktesystem, um FASD oder die schwerste Ausprägung dieser Störung, FAS, zu erkennen oder die Möglichkeit einer Alkoholschädigung in die Diagnose zumindest einzubeziehen.
"Alkoholkinder" haben oft messbar verkürzte Lidspalten, eine dünne Oberlippe und einen zu kleinen Kopf. Viele dieser Kinder sind leichter als der Durchschnitt und bleiben relativ klein. Wenn bei einem Kind mehrere dieser Auffälligkeiten zusammenkommen und in der Punkteskala ein bestimmter Wert erreicht wird, kann die Diagnose FAS lauten. Möglich Folgen sind auch angeborene Herzfehler oder Anomalien von Organen oder Gliedmaßen.
Die Merk- und Konzentrationsfähigkeit der Kinder ist vermindert
Wachstumsverzögerungen sowie Gesichts- und Organfehlbildungen sind jedoch nicht das Hauptproblem, zumal sich optische Auffälligkeiten mit den Jahren "auswachsen" können. Die Kinder sind vor allem geistig unterentwickelt, sie erreichen oft nur einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten (IQ). Forscher der Universität Münster ermittelten bei einer FAS-Stichprobe einen IQ von im Schnitt 75, bei einem Normwert von 100 plus/minus 15.
Auch die Merk- und Konzentrationsfähigkeit der Kinder ist vermindert. Unter einer geistigen Entwicklungsverzögerung leiden nach Aussage der Münsteraner Forscher rund 90 Prozent der betroffenen Kinder. Spohr weiß, dass der Alkohol die Kinder im Mutterleib aggressiv angreift: "Das Zielorgan ist das Gehirn." Bei FAS treten neuropathologische Symptome häufiger auf als morphologische Anomalien.
Betroffene Kinder zeigen ein extrem gestörtes Sozialverhalten
Die FAS-Folgen reichen in der späteren Entwicklung noch viel weiter, mit schwerwiegenden psychosozialen Auswirkungen. Betroffene zeigen ein gestörtes Sozialverhalten, fehlende Impulskontrolle, Aggressionen, Hemmungslosigkeit und mangelnde Empathie. Viele dieser Menschen sind zudem planlos, leicht zu beeinflussen oder auszubeuten und können so zu Opfern werden, etwa in sexuellen Beziehungen oder in Gruppen.
Berichte von Eltern oder Pflegeeltern zeigen, dass die Erziehung von FAS-Kindern nicht nur eine große familiäre Herausforderung ist, sondern auch dramatisch scheitern kann. Die meisten Betroffenen bleiben ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen.
Schon ein Glas Alkohol zur falschen Zeit kann das Baby schwer schädigen
Da Alkohol als Genussmittel akzeptiert und legal ist, geraten schwangere Frauen schnell in eine schwierige Lage. Ärzte raten dringend dazu, in der Schwangerschaft und Stillzeit auf Alkohol ganz zu verzichten und wollen nicht ausschließen, dass auch schon ein Glas Alkohol zur falschen Zeit das Baby schwer schädigen kann, denn die Alkoholkonzentration im Blut der Mutter geht auf das Kind über.
Normalerweise filtert die sogenannte Plazentaschranke Schadstoffe und Krankheitserreger aus dem Blutkreislauf der Mutter, damit diese das kindliche Blut nicht erreichen, bei Alkohol funktioniert die Schranke aber nicht.
Besonders kritisch sind die frühen Schwangerschaftswochen.
Als besonders kritisch gilt die Zeit von der 5. bis zur 12. Schwangerschaftswoche, weil in dieser Phase die wesentlichen Organstrukturen und das Nervensystem des Kindes angelegt werden. Auch wenn Frauen von der Gefahr wissen und sie vermeiden wollen, können sie betroffen sein, wenn sie ihre Schwangerschaft spät erkennen. In manchen Fällen reagiert der Körper mit dem "Alles-oder-nichts-Prinzip" und stößt eine geschädigte Eizelle ab. Eine Vorhersage, wie stark eine alkoholbedingte Schädigung sein könnte, ist nicht möglich.
Grundsätzlich hängt die Schädigung davon ab, wie viel und wie regelmäßig Alkohol getrunken wird. Weitere individuelle Faktoren sind Alter, die körperliche Verfassung, genetische Veranlagungen, Ernährung und allgemein der Lebensstil.
Experten fordern verstärkte Aufklärung und Warnhinweise
Auch scheint der genaue Zeitpunkt des Alkoholkonsums für die mögliche spätere Schädigung des Kindes relevant zu sein. Mediziner vermuten, dass es kritische und weniger kritische Tage gibt. Wenn der im Mutterleib heranwachsende Embryo gerade einen Entwicklungsschub erfährt, ist er besonders verwundbar.
Der Verein FASD Deutschland hält eine verstärkte Aufklärung mit Warnhinweisen auf Alkoholflaschen und Beipackzetteln von Schwangerschaftstests für zwingend geboten. Gerade in der Pandemie komme es zu einem erhöhten Alkoholkonsum. Ein Risiko gehen vor allem Frauen ein, die regelmäßig und viel Alkohol trinken.
Die Diagnose erfordert viel Erfahrung
Der Zusammenhang zwischen Alkohol und Fehlbildungen bei Kindern wurde schon in den 1960er Jahren erkannt und beschrieben, aber die Diagnose erfordert Erfahrung. Differenzialdiagnosen werden genutzt, um FAS gegenüber anderen möglichen Erkrankungen abzugrenzen.
Vom klinischen Vollbild FAS unterschieden werden die Subformen partielle FAS (pFAS) mit zerebralen Störungen sowie alkoholbedingte neurologische Entwicklungsstörungen (ARND) und alkoholbedingte Geburtsschäden (ARBD).
Bei Hyperaktivität von FAS-Kindern folgt mitunter die unzureichende Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Auch Bindungsstörungen oder Autismus werden öfter anstelle von FAS diagnostiziert, was eine nicht optimale Therapie zur Folge haben kann.
Jedes Jahr werden 10.000 Kinder mit alkoholbedingten Schäden geboren
Alkohol in der Schwangerschaft gilt als häufigste Ursache für nicht genetisch bedingte Fehlbildungen bei Kindern. Sind Menschen mit FAS in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe beeinträchtigt, erfüllen sie formal die Voraussetzungen einer Behinderung, wie aus einem sozialrechtlichen Hintergrundbericht der Bundesregierung hervorgeht.
Wegen der oft nicht eindeutigen Diagnose kann die Häufigkeit von FASD und FAS nur geschätzt werden. Experten gehen davon aus, dass jedes Jahr rund 10.000 Kinder mit alkoholbedingten Schäden geboren werden, darunter etwa 2.000 mit dem Vollbild FAS. Es wird vermutet, dass in Deutschland mindestens 800.000 Betroffene mit unterschiedlich ausgeprägten alkoholbedingten Störungen leben, die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
FAS ist nicht heilbar, Entwicklungsverzögerungen können aber mit Hilfe von Physiotherapeuten oder Logopäden zumindest teilweise ausgeglichen werden. In manchen Fällen ist auch eine Psychotherapie sinnvoll oder eine medikamentöse Behandlung.
Viele öffentliche Einrichtungen kennen das Syndrom gar nicht
Der Neurologe Spohr nennt FASD ein "signifikantes gesundheitspolitisches und soziales Problem" und beklagt, dass öffentliche Einrichtungen, vom Jugendamt bis zum Sozialgericht, das Syndrom nicht kennen oder als Krankheit nicht anerkennen. Dabei sei FASD eine international anerkannte Erkrankung mit unterschiedlich intensiv ausgeprägter Behinderung.
In der maßgeblichen Tabelle der Versorgungsmedizin-Verordnung sei FASD jedoch nicht benannt. Versorgungsämter und Gerichte müssen die Diagnose FAS zur Kenntnis nehmen und als Behinderung mit Hilfslosigkeit akzeptieren.
Für die dreifache Mutter war die Diagnose FAS bei gleich zwei Kindern eine schwierige Erkenntnis, aber nicht die einzige. Professor Spohr untersuchte auch die Mutter und stellte dieselbe Diagnose. Nach all den für sie teils nicht nachvollziehbaren und schwierigen Erfahrungen, nach allen Problemen in ihrem Leben stellte sie nun fast erleichtert fest: "Jetzt hat das Ganze einen Namen."