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rückbau : Alles muss raus

Wie ein Atomkraftwerk nach der Abschaltung demontiert wird - und was mit dem Abfall passiert

26.07.2021
True 2023-08-30T12:39:40.7200Z
5 Min

Möwen kreischen über dem Parkplatz, zwischen Bäumen blitzt die Ostsee, weiter hinten, im Dunst, liegt Rügen. Davor ein Koloss aus Stahl und Beton: Das größte Atomkraftwerk der DDR, das ehemalige VE Kombinat Kernkraftwerk "Bruno Leuschner", einst Vorzeigebetrieb, ein Atomkomplex mit fünf Reaktorblöcken. Er ist seit 1990 abgeschaltet.

Heute ist "Bruno Leuschner" wieder eine Art Vorzeigebetrieb. Dafür, wie ein Atomkraftwerk zurückgebaut wird. Was im Rest der Republik mit dem Atomausstieg gerade beginnt, der Rückbau der Kraftwerke, wird hier in Lubmin an der Ostsee seit mehr als 25 Jahren erprobt und praktiziert. Rückbau bis zur grünen Wiese ist das Ziel. Seit 1995 zerlegen Arbeiter der bundeseigenen Entsorgungswerk für Nuklearanlagen GmbH (EWN) das Kraftwerk. Sie demontieren Betonwände, zerlegen Maschinen, sie dekontaminieren, verschrotten, entsorgen und lagern. Und das alles unter den Bedingungen des Strahlenschutzes.

Alex Dufke ist Meister in der Zentralen aktiven Werkstatt, so heißt die große Zerlegehalle für Metallteile mit schwach- und mittelradioaktiver Strahlung. Der Metalltechnik-Meister, sportlicher Typ mit wachem Blick, entscheidet täglich mit, welche Teile wie behandelt werden, um sie von der Strahlung zu befreien. Hat er keine Angst? "Angst nicht, Respekt schon", sagt Dufke. "Ich verlasse mich auf unseren Strahlenschutz." Er trägt zwei Dosimeter in seinem Arbeits-Overall, eins für die Tages-Messung, eins für die Langzeit-Messung.

Ein Atomkraftwerk abzubauen, ist mühsame kleinteilige Arbeit. "Das ist alles Manpower", sagt Dufke und zeigt in die Halle. Dort zerlegt ein Arbeiter in einer abgeriegelten Kabine, ausgestattet mit feuerfestem Schutzanzug und Atemmaske per Schweißbrenner ein Metallteil. Funken sprühen, Rost und Dreck fliegen durch die Kabine. Der Kollege vom Strahlenschutz misst vorher die Kontamination des Teils und legt damit fest, wie lange der Zerleger daran Hand anlegen darf, zehn Minuten etwa oder eine halbe Stunde.

Stück für Stück In einem abgeschirmten Raum gegenüber bearbeitet ein Kollege, in Schutzanzug und Atemmaske, eine stählerne Handarmatur per Hochdruckreiniger - und entfernt so kontaminierte Oberflächen. Er steht auf Gittern, das Wasser wird aufgefangen und bleibt im Kreislauf. Bei anderen Teilen kommt Eisengranulat statt Wasser aus dem Hochdruckgerät, um die Strahlung los zu werden.

Wo das nicht ausreicht, wird Chemie eingesetzt. Zwei Türen weiter, ein separater Raum, ausgekleidet mit Edelstahl, ausgestattet mit Touch-Pad-Bildschirmen an der Wand. Hier wird Phosphorsäure und Oxalsäure eingesetzt. In Wannen machen die Säuren die Kraftwerksteile "sauber"; so heißt es hier, wenn die kontaminierten Oberflächen entfernt sind.

Sicherheitsmaßnahmen Das Vokabular ist speziell. Eine blitzblanke Werkbank trägt das Schild "dreckiger Sortiertisch", weil hier kontaminierte Teile lagen. An Metallkisten voller Teile klebt die handschriftliche Notiz "Deko", was nichts mit Dekorationsmaterial zu tun hat, sondern heißt, dass der Inhalt dekontaminiert werden muss. Die bearbeiteten Teile werden "freigemessen", also kontrolliert, ob die Strahlung entfernt ist und sie herkömmlich entsorgt werden können. Wer hier arbeitet, muss durch mehrere Schranken und vor allem durch zwei Sicherheits-Schleusen, die radioaktive Strahlung messen. Eine digitale Frauenstimme gibt in der engen Schleuse Anweisungen: "Bitte näher", "Hände einlegen" zum Beispiel und zählt dann von zwanzig bis eins die Mess-Zeit herunter.

Stapel von grauen Kisten warten in der Halle auf die Weiterbearbeitung. Sie zeigen einen säuberlich sortierten Ausschnitt aus dem Innenleben eines Atomkraftwerks: Elektro-Platinen, Stangen, Leisten, rot lackierte Schutzgehäuse von Maschinen, Schrauben und Muttern, Keramik-Handwaschbecken.

Zur Wiederverwertung Vieles davon kann nach der Freimessung als Rohstoff verkauft werden, etwa die "tiptop Edelstahlteile" aus dem Säurebad, wie Dufke erzählt. Aus den kilometerlangen alten Kabeln mit Plastikummantelung macht Dufkes Werkstatt in einem Extraraum sortenreines Kupfer- und Plastikgranulat. Betonteile finden etwa Wiederverwendung beim Straßenbau. Rund 165.000 Tonnen Beton hat EWN insgesamt zur Verwertung abgegeben, davon ist ein Teil in der A20 verbaut. Allein aus dem Verkauf von Metall-Rohstoffen erzielte EWN in den vergangenen Jahren Einnahmen von 300.000 bis 400.000 Euro jährlich.

Die Freimessung der Teile ist eine Welt für sich. In einer eigenen Halle stehen dazu zwei Anlagen, groß wie Container. Akribisch prüfen die Arbeiter hier die ankommenden Kisten auf den korrekten Inhalt per Transportschein und auf eine mögliche Strahlung per Dosimeter und Tests. Erst dann darf das Teil in die Anlage eingefahren werden, wo 16 Detektoren die Strahlung messen. An einem Bildschirm in einem separaten Raum werden die Daten des Teils auch räumlich angezeigt. Ist dabei eins von Dutzenden Kriterien nicht erfüllt, geht das Teil zurück - und bekommt noch eine Dekontamination. Das passierte zuletzt vor eineinhalb Jahren, ist also selten. Der TÜV begleitet die Messung, das ist vorgeschrieben.

Herausforderung Die größten Brocken stehen jedoch noch bevor: In den Hallen des nebenan liegenden Zwischenlagers warten die Reaktordruckbehälter aus dem Kernkraftwerk. In diesen riesigen Stahlbehältern fand früher die eigentliche Kernspaltung statt, entsprechend stark sind sie verstrahlt. Um sie und hochradioaktive Teile zu demontieren, entsteht auf dem Gelände des ehemaligen Kraftwerks zurzeit eine eigene Zerlegehalle. Die Betonwände stehen schon. Hier werden später keine Arbeiter Hand anlegen, sondern Roboter per Fernsteuerung arbeiten.

Die Rückbau-Kompetenz ist gefragt, vor allem das Know-How bei der Reaktorzerlegung. Die EWN arbeitet in Konsortien in anderen deutschen Kernkraftwerken, dazu gehören das AKW Obrigheim, Philippsburg, Brunsbüttel und Mühlheim-Kärlich. Russland lässt sich von EWN helfen, Atom-U-Boote abzuwracken. Aus Asien, etwa Südkorea und Japan kommen AKW-Ingenieure, um über die Erfahrungen mit dem Rückbau zu sprechen.

Von den rund 566.000 Tonnen schwach- und mittelradioaktiven Materials des Atomkomplexes sind inzwischen knapp die Hälfte zurückgebaut. Was passiert mit den Abriss-Teilen und Schuttmengen, die auch nach der Behandlung weiter schwach- und mittelradioaktiv belastet sind? Sie werden,, in Spezialbehältern verpackt, ins Zwischenlager Nord gleich nebenan gebracht. Dort bleiben sie, bis das Endlager Schacht Konrad in Salzgitter fertig ist, voraussichtlich im Jahr 2027. Die Fertigstellung hat sich jedoch schon mehrmals um Jahre verschoben.

Von den hunderttausenden Tonnen Material, das bisher vom Rückbau in Greifswald anfiel, macht der hochradioaktive Abfall weniger als ein Prozent aus. Die hochradioaktiven Teile, dazu gehören auch die Brennelemente in den mehr als 60 Castor-Behältern, lagern ebenfalls im Zwischenlager Nord bis ein Endlager für hochradioaktiven Müll gefunden ist. Zurzeit sucht die Bundesgesellschaft für Endlagerung in einem mehrstufigen Verfahren nach einem Standort dafür. Der Salzstock Gorleben, der politisch festgelegt und lange umstritten war, ist in der ersten Runde ausgeschieden. Bis 2031, so der Plan, soll ein Standort feststehen, der für eine Million Jahre die bestmögliche Sicherheit bietet.

Geht es um Radioaktivität, gelten andere Zeithorizonte. Auch in Greifswald. Inzwischen dauert der Abriss schon länger als der Betrieb des Kraftwerks. Bis 2028 sollte es komplett verschwunden sein, so lautete die Planung bis Anfang diesen Jahres. Im März gab es einen Rückschlag. In zwei Nebengebäuden des Reaktorgebäudes, in denen während der Betriebsphase des Atomkraftwerks radioaktive Flüssigkeiten gelagert wurden, sind große Kontaminationen in Wänden und Böden festgestellt worden. Die Flüssigkeiten sind metertief eingedrungen und haben den Beton radioaktiv verunreinigt.

Die Beseitigung des als schwach radioaktiv eingestuften Betons führt zu statischen Problemen, für die erst eine Lösung gefunden werden muss. Der Rückbau des Atomkraftwerks verzögert sich nun, vermutlich auf die zweite Hälfte der 2030er Jahre. Wenn nicht noch andere Überraschungen auftauchen. Die grüne Wiese muss noch ein wenig warten.