ARCHITEKTUR : Bauen mit Mehrwert
Ressourcenschutz erhält einen größeren Stellenwert
Als innovationsfreudig und experimentierbereit gelten die Niederländer bekanntlich seit jeher. Was die Stadt Amsterdam nun indes plant, könnte in ihrer Sprengkraft alles in den Schatten stellen, was hierzulande als Modellversuch und Pilotprojekt am Markt getestet wird: Bis 2050 möchte die Hauptstadt ihre Abläufe vollständig auf eine Kreislaufwirtschaft umgestellt haben. Nahezu sämtliche Rohstoffe und Materialien sollen nach dem Herstellen recycelt und komplett neu verwendet werden können- so sieht es eine Strategie vor, auf die sich die Stadtoberen geeinigt haben. Schon bis 2030 soll der Rohstoffverbrauch um die Hälfte zurückgehen.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Bauwirtschaft zu: Die Branche gilt als eine der Hauptemittenten für den Kohlendioxidausstoß genauso wie als Großverbraucherin von Ressourcen - mit entsprechender Müllproduktion. In Deutschland haben sich nach Angaben der Initiative Kreislaufwirtschaft Bau 2016 mehr als 214 Millionen Tonnen mineralische Bauabfälle angehäuft. Aktuellere Zahlen gibt es nicht. Davon wurden den Angaben zufolge fast 90 Prozent recycelt, allerdings bewerten Branchenbeobachter dies in der Regel eher als "downcycling", also als wenige hochwertige Weiterverwendung.
"Baufirmen werden zunehmend mit nachhaltigen Materialien arbeiten müssen", heißt es an prominenter Stelle in dem Amsterdamer Konzeptpapier. Derart in die Pflicht genommen worden ist die Branche bislang kaum und keinesfalls hierzulande. Für ein Umsteuern aus Eigenmotivation fehlte schlicht der Druck - schließlich geht es der Bau- und Immobilienbranche seit ein paar Jahren mehr als gut, die Auftragsbücher sind genauso voll wie die Geldbörsen von Investoren. Im Jahr 2019 erzielte das Bauhauptgewerbe dem Statistischen Bundesamt zufolge einen Umsatz von 135 Milliarden Euro - das 1,5fache vom Umsatz zur Jahrtausendwende. Die Zahl der Insolvenzen ging drastisch zurück, auch das eine Kennzahl für die stabile Lage in der Branche.
Prinzipien längst auf dem Markt Ideen, wie der Bau und Betrieb von Gebäuden nachhaltiger ablaufen könnte, gibt es freilich längst. In den 1990er-Jahren entwickelte der Verfahrenstechniker und Chemiker Michael Braungart gemeinsam mit dem Architekten William McDonough die Idee einer Kreislaufwirtschaft. Nach dem Prinzip "Von der Wiege zur Wiege" ("Cradle to Cradle", C2C) soll die Wirtschaft abfallfrei werden: Alles, was verwendet wird, kann ohne Schaden dem Kreislauf zurückgeführt werden. Bezogen auf die Immobilienwirtschaft bedeutet das die komplette Wiederverwertbarkeit eines Bauvorhabens, vom Einrichten der ersten Baugrube bis zum eventuellen Abriss. "Es geht darum, die guten Materialien, die beim Bau verwendet werden, in Bezug auf ihren gesundheitlichen Nutzen darzustellen", beschreibt es Peter Mösle. Der Partner beim Projektentwickler Drees & Sommer zählt neben Braungart zu den Treibern der Idee in Deutschland und leitet als Geschäftsführer den Thinktank EPEA (Environmental Protection Encouragement Agency) mit. Baumaterialien müssten im Fall einer Demontage genauso hochwertig wieder eingesetzt werden können oder eben ohne Negativwirkung zu ihrem Ursprung zurückgehen.
Pilotprojekte und Modelle Zu den Pilotprojekten mit einer positiven Kreislaufbilanz zählt der RAG-Konzernsitz auf der Zeche Zollverein im Ruhrgebiet, in Straubenhardt südlich von Pforzheim entsteht ein neues Feuerwehrhaus nach dem Prinzip und in Erlangen hat ein Hotel sechs Zimmer in der Cradle-to-Cradle-Philosophie gebaut: Deren Wände bestehen aus Strohbauplatten statt Rigips. Werden die Räume umgebaut, kann man die Wände problemlos verrotten lassen.
Noch größer denkt man in der Hamburger Hafencity. Dort will der Projektentwickler Landmarken über seine Tochter Moringa Holding das gleichnamige Hochhaus Moringa bauen. Ansporn ist, das erste Wohnhochhaus diesen Typs zu werden. Auf dem gut 4.700 Quadratmeter großen Grundstück im östlich gelegenen Elbbrücken-Quartier sind 190 Wohnungen mit einer Gesamtwohnfläche von fast 12.000 Quadratmetern geplant. In drei Bauteilen, die sich um einen grünen Innenhof gruppieren, sind auch geförderte Wohnungen geplant, genauso wie ein Kindergarten und Co-Living-Wohngemeinschaften sowie Gastronomie. Die Fassaden soll begrünt werden und so einen Mehrwert für die Umgebung in Sachen Luftqualität bieten, gegen den Lärmschutz kommen spezielle Fenster zum Einsatz, die mit wenig Material auskommen.
"Mehr als die Hälfte der Bauteile in bestimmten Bauteilgruppen ist nach diesem Standard recycelbar", sagt Moringa-Geschäftsführer Vanja Schneider über den C2C-Ansatz. Bei der Fassade könne man nahezu komplett auf wiederverwertbare Rohstoffe setzen, auf das ganze Gebäude bezogen sei das technisch nicht möglich: Lüftungsteile zum Beispiel können nicht komplett recycelt werden, auch bei allem rund um die Heizung gestaltet sich so eine Herangehensweise schwierig. Außerdem verhinderten Brandschutzauflagen, ganz auf den Baustoff Holz mit seiner hervorragenden Ökobilanz zu setzen, sagt Schneider. "Die Decken müssen massiv sein."
Beim Bau setzt Moringa auf die selben Architekten, die schon beim RAG Konzernsitz mit nachhaltigen Baustoffen Erfahrung gesammelt hatten - dem Team von Kadawittfeldarchitektur. Für den dortigen Projektleiter Tim Danner wird ein Gebäude im Idealfall zum Materialdepot. Dokumentiert werden Prozess und Bau mittels eines Gebäude-Materialausweises, in dem etwa steht, wie Teile abgebaut werden können.
Auf die Idee sind auch schon andere gekommen: Mösle von Drees & Sommer beispielsweise hat dazu vor einiger Zeit eine Joint-Venture-Plattform ausgegründet, die Building Material Scout GmbH. Sie bietet die Möglichkeit, Bauprodukte und -prozesse zu dokumentieren und zu bewerten. Gemeinsam mit einer zirkulären Gebäudeplanung entsteht am Ende eine Art Pass, der die verwendeten Produkte darlegt. Building Material Scout testet das Verfahren derzeit auf etwa zwei Dutzend Baustellen.
Mit ähnlicher Stoßrichtung arbeitet das Gründerteam um die Materialplattform Madaster, die vor einigen Monaten in Deutschland gestartet ist. Die Ursprungsidee kommt ein weiteres Mal aus den Niederlanden: Das Kataster erfasst Materialien, Gebäude und Infrastrukturen. Alle, die am Bauprozess beteiligt sind, können Daten austauschen und ergänzen. So entsteht während des Baus eine Dokumentation als Basis für den späteren Gebäudepass. Ein solches Vorgehen hilft nicht nur der Umwelt, sondern wirkt sich auch konkret finanziell aus - so jedenfalls hoffen es die Impuls gebenden Unternehmen: Verbunden mit der von der EU beschlossenen Taxonomie für nachhaltiges Finanzieren würden Projekte und Gebäude so neu risikobewertet.
"Man kann jetzt die verfügbaren Rohstoffwerte tatsächlich in die Bücher der Immobilienfonds und -eigentümer bringen und belegen, dass nach dem C2C-Prinzip gebaute Gebäude einen höheren Wert haben", sagt Mösle. Wer auf eine kreislauffähige Gebäudeplanung und die Gesundheit seiner Produkte achtet, kann sein Projekt besser vermarkten und eine höhere Rendite erzielen - so soll künftig die Schlüsselformel lauten. Freilich seien die Investitionen zunächst höher, bekennt der Nachhaltigkeits-Experte: Es brauche Fachkräfte im Projektteam, die C2C managen und qualitativ hochwertigere Rohstoffe auswählen. Die Mehrkosten bei einem Bau von mehr als 5.000 Quadratmetern dürften bei bis zu 1,5 Prozent liegen.
Das langfristige Plus ergebe sich bei Büro und Gewerbe zum einen aus dem besseren Arbeitsklima, damit verbunden weniger Krankmeldungen und sinkenden Personalkosten. In Holland haben Architekten für ein Verwaltungsgebäude beispielhaft jährliche Einsparungen im mittleren sechsstelligen Eurobereich ausgerechnet. Zum anderen wandern die Rohstoffe als buchstäblich nachhaltiger Wert in die Bücher. "Materialkosten machen etwa 20 Prozent von den Hauskosten aus, etwa die Hälfte kommt mit C2C wieder rein", so Mösle. "Wir verkaufen ein Haus mit positivem Rohstoffwert." Er schätzt, dass bis 2030 an die Hälfte aller Neubauten nach dem Cradle-to-Cradle-Maßstab entwickelt werden. Moringa-Geschäftsführer Schneider verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich dieses Verhältnis angesichts der zuletzt stark gestiegenen Materialkosten am Bau weiter zugunsten einer Kreislaufwirtschaft auswirken könnte.
Ungewohntes Vorgehen Indes funktionieren diese Vorstöße und Vorhaben problemlos für Neubauten - doch zum Erreichen der Klimaziele kommt es maßgeblich darauf an, das energetisch zu sanieren, was schon gebaut ist. In Berlin hat der Verein Cradle to Cradle NGO den Umzug in größere Geschäftsräume für einen Modellversuch genutzt. Das Team mit inzwischen gut zwei Dutzend Mitarbeitern ist auf 400 Quadratmeter eines in die Jahre gekommenen Plattenbaus im Osten der Stadt gezogen. Auf Basis eines Umweltgutachtens hat es verbaute Gefahrenstoffe identifiziert und entfernt. "Bei der anschließenden Materialauswahl wollten wir nur Stoffe verwenden, die keinerlei Schadstoffe enthalten und die man problemlos wieder ausbauen und neu benutzen kann", sagt Vorstand Tim Janßen. Der Verein fand Material-Sponsoren und musste lediglich die Handwerker bezahlen - und vorher Betriebe finden, die sich auf das ungewohnte Vorgehen einlassen wollten. "Erstmal wollte der Fußbodenleger die Leisten ankleben statt verschrauben", gibt Janßen ein Beispiel. An mancher Stelle scheiterte sein Team auch: Lehmkleber im Duschbad hält nicht, Silikone mit C2C-Standard gibt es noch nicht.
Entstanden sind nach einem Jahr Bauzeit helle, freundliche Räume, denen man den neuen Ansatz kaum ansieht. Die über Putz gelegten Leitungen etwa (zu Zwecken des leichteren Ausbaus) entsprechen dem zeitgemäßen Interieur von Jungunternehmen. Janßen setzt nun darauf, dass Unternehmen dem Beispiel folgen. Das Interesse sei jedenfalls enorm.
Doch auch wenn die Berliner mit ihrem Ansatz für hiesige Verhältnisse innovativ klingen mögen: In Amsterdam ist man schon wieder einen Schritt weiter. Mit dem Altindustriestandort Buiksloterham im Norden will die Kommune ein ganzes Bestandsviertel mit hundert Hektar komplett auf Kreislaufwirtschaft umstellen. Die Pläne reichen von multimodalen Mobilitätsansätzen bis hin zur autarken Energieversorgung und Bauprojekten wie schwimmenden Wohnhäusern oder Holzhybridbauten: Eine Miteinander von Bestands- und Neubauten mit der gemeinsamen Idee eines nachhaltigen Lebenszyklus, der wie eine Utopie klingt. Manche Projekte sind bereits verwirklicht.