[Default Title]
»Ich möchte sensibilisieren und nicht missionieren«
Die Datteln schaufelt Isabelle Ritter mit Hilfe eines Trichters ins Glas. Auf den Deckel hat sie 1060 geschrieben. Das ist die Grammzahl ihres mitgebrachten Gefäßes. Die orientalischen Leckereien plant die 28-Jährige auch für den nächsten Ausflug zum See ein. Quinoa, Spaghetti, eine Flasche Apfelsaft stehen noch auf ihrem Handy-Einkaufszettel. Seit zwei Jahren ernährt sie sich vegan. An der Kasse im Laden ohne Verpackungen "Der Sache wegen" in Prenzlauer Berg wird das Nettogewicht ihrer Einkäufe ermittelt. Rund 20 Euro muss sie bezahlen.
Ganz schön teuer. Aber es handelt sich um Bioprodukte oder regionale Artikel. Ausschließlich im Unverpackt-Laden einkaufen könne sie sich nicht leisten. Also muss Ritter zusätzlich in die Supermärkte gehen. Bei Rewe holt sie loses Obst und Gemüse, bei Penny Kokos-Joghurt, im Drogeriemarkt Kosmetika ohne Mikroplastik. Für sämtliche Stellen hat sie ihre digitalen Einkaufslisten. Am allerliebsten bezieht sie Lebensmittel über ihre App "Too good to go". Dort werden Lebensmittel in Überraschungstüten für wenig Geld verkauft, welche ansonsten im Supermarkt aufgrund von Verfallsdatum oder Qualitätsmängeln vernichtet würden. "Ich hatte gestern eine Tüte, da war Mangold drin. Ich habe noch nie in meinem Leben Mangold gekauft." Also gab's Mangold bei Isabelle.
Für Ritter ist es zum Grundsatz geworden, auf Verpackungen möglichst zu verzichten. Seit dem sie das tut, hat sich ihr Verpackungsmüllaufkommen deutlich verringert. Einen halben gelben Sack füllt sie noch im Monat. Das hat sie mal getestet. Freilich kostet ihre Art einzukaufen mehr Zeit. Aber sie konzentriert sich auf Basics im Unverpackt-Laden. "Dann habe ich keinen Stress." Und verrückt machen wolle sie sich nun auch nicht.
Zeit ist für die junge Frau ein kostbares Gut, weil sie ihre Aktivitäten breit gestreut hat. Sie ist seit diesem Jahr hauptamtliche Mitarbeiterin beim BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz) im Projekt "Berlins Weg zu Zero Waste". Ehrenamtlich engagiert sie sich im Zero Waste Verein, gibt Geflüchteten Nachhilfe in Rechnungswesen. Da kann sie, die in der Nähe von Göttingen aufgewachsen ist, auf ihre Kenntnisse aus ihrer Ausbildung als Einzelhandelskauffrau zurückgreifen und ihr Fernstudium in Betriebswirtschaftslehre. Ausgleich findet die große Sportliche im Jeansrock sowohl beim Ballett und Yoga als auch beim Surfen und Snowboarden.
Im letzten Jahr ist sie von ihrer Auszeit aus Neuseeland zurückgekehrt. Das Muscheltattoo auf ihrer linken Wade erinnert sie stets an diese schöne Reise und das Meer. Doch erinnert es sie auch an Schreckliches: "Viele Strände waren dreckig. Das viele Plastik selbst in Neuseeland und vor allem auf Bali, wo ich zwei Jahre zuvor war, war ganz schlimm." Nach Angaben des Bundesumweltamtes wurden im Jahr 2018 allein in Deutschland 18,9 Millionen Tonnen Verpackungsmüll registriert.
Selbst das als schick geltende Prenzlauer Berg findet die Wahl-Berlinerin "dreckig und vermüllt". Ritter lässt ihren Blick von der Parkbank am Helmholtzplatz gegenüber des Ladens über den Sand wandern. Zigarettenkippe an Zigarettenkippe, Kronkorken. Ein Ärgernis, das von Achtlosigkeit und Ignoranz zeugt. Dabei gibt es wenige Meter entfernt gleich drei Papierkörbe. Wenn sie mit Freunden auf dem Tempelhofer Feld sei, dann nehme sie ihren Müll in einer Tüte anschließend mit und sammele obendrein fremden ringsum ein. Konfrontiert mit den "Fridays for Future"-Demonstrationen, bei denen die Plätze manchmal aussehen wie die rund ums Wembley-Stadion nach der Fußball-EM, reagiert sie eindeutig: "Das gehört sich nicht." Auf die Müllsortierung ihrer Nachbarn im Haus wirft sie ein wachsames Auge und klärt beispielsweise mit einem Zettel auf: "Es wäre cool, wenn ihr keine Bioplastiktüten kauft. Diese werden von den Müllsortierungsanlagen nicht als Bioplastik erkannt. Liebe Grüße".
Ritter räumt ein, dass ihr Engagement für die Vermeidung von Müll für sie ein Prozess war und noch ist. Als sie auf Reisen die verdreckten Strände erlebte, beschloss sie, ihr Leben und ihren Einfluss zu verändern. Auch beruflich. Sie animiert: "Ich kann auch mit dem Kassenbon meine Meinung zum Ausdruck bringen. Wenn wir Produkte mit umweltschädlichen Verpackungen nicht kaufen, werden sie die Unternehmen aufgrund mangelnder Nachfrage vom Markt nehmen." Sie spricht sich für die Einführung einer Plastiksteuer aus.
Zäh muss eine Umweltaktivistin sein aber nicht radikal. "Ich möchte eine Person sein, die Menschen mitnimmt auf ihre Art und Weise, Grenzen akzeptiert, auch wenn sie sagen: Ich möchte auf mein verpacktes Schnitzel nicht verzichten." Und dabei denkt Ritter auch an ihre Joghurts im Plastikbecher zuhause.
Natürlich weiß sie um ihre eigene Widersprüchlichkeit. Flugreisen ans andere der Welt treibt den CO2-Ausstoß in die Höhe. "Ich als Einzelperson kann nicht alles richtig machen." Alle zwei Jahre ein Langstreckenflug finde sie in Ordnung. Sie lässt auch anderen gegenüber Milde walten. "Ich möchte sensibilisieren und nicht missionieren." Es gehe darum, dass jeder in seinem kleinen Radius etwas verändere. Auf Ritters rechtem Arm ist verewigt "Use your voice". Als sie nach 20 Minuten "Der Sache wegen" verlässt, war sie die einzige Kundin. Das Geschäftsprinzip habe sich noch nicht genügend rumgesprochen. In Deutschland gibt es nach "Unverpackt e.V." 432 Läden ohne Verpackungen. 2020 waren es erst 272.