INITIATIVE : Ruf der Pampa
In der »Raumpionierstation Oberlausitz« können sich all jene Rat holen, die es aus der Großstadt auf's Land zieht
Jasper rollt auf der leeren Dorfstraße entlang. Unbeschwert gibt er seinem Roller immer wieder Schwung, indem er sich mit einem Bein abstößt. Die Besucherin schaut dem Neunjährigen unruhig hinterher, in Sorge, dass gleich ein Auto um die Kurve brausen könnte. Doch der Vater des Jungen winkt entspannt ab. "Wenn hier mal etwas kommt, hört man es rechtzeitig", sagt Jan Hufenbach.
Tatsächlich ist es ausgesprochen ruhig in Klein Priebus. Der kleine Ort liegt abseits der Hauptverkehrsstrecken ganz im Osten von Sachsen, direkt an der Grenze zu Polen. Der Verkehr rauscht in etwa einem Kilometer Entfernung vorbei, auf der wenig frequentierten Verbindung zwischen Görlitz und Bad Muskau. Wer durch Klein Priebus fährt, wohnt dort oder hat im Dorf irgendein Ziel. Fremde fallen auf. Besonders zu vorgerückter Stunde wird jedes unbekannte Fahrzeug argwöhnisch beäugt.
Eigenes Gemüse Jaspers Eltern hat es vor mittlerweile zwölf Jahren in die Idylle an der Neiße verschlagen. "In die Pampa", wie Arielle Kohlschmidt und Jan Hufenbach selbst sagen. Sie haben sich in Berlin kennen gelernt und lange in der Hauptstadt gelebt. Seit 2009 sind sie in Klein Priebus zu Hause, einem Ort mit knapp 100 Einwohnern. Die Neiße fließt wenige Meter vor dem Haus vorbei, in dem sie mit ihrem Sohn wohnen. Gemeinsam betreibt das Paar dort eine Kommunikationsagentur, entwickelt beispielsweise Ausstellungs- und Raumkonzepte.
Den Wechsel "von der belebten Stadt ins Nichts" haben die beiden Selbstständigen keinesfalls bereut, erzählt Arielle Kohlschmidt. "Ich mag die Natur und wollte meine Ruhe haben", sagt sie. Am liebsten wäre ihr sogar ein Haus in absoluter Randlage gewesen. Ihr jetziges Grundstück liegt dagegen mitten im Dorf, ohne "menschenfreie Sicherheitszone drum herum", wie sie es sich eigentlich gewünscht hatte. Letztlich entschied sie sich dafür, weil keine große Straße daran vorbeiführt, der Preis leicht aufzubringen und kein Kredit für den Kauf nötig war.
Kohlschmidts Haus sticht heute mit türkis gestrichener Fassade aus dem Straßenbild heraus. Die 44-Jährige wirkt mit ihrer Wahl sehr zufrieden. Im eigenen Garten wachsen Tomaten, Bohnen und vieles mehr. Die zierliche Frau pflückt eine Erdbeere vom Hochbeet und reicht die saftige Frucht zum Kosten weiter. "Besser als jede gekaufte Bio-Ware", schwärmt sie. In der Abgeschiedenheit findet sie als Grafikerin und Texterin Inspiration. Wenn sie eine Pause braucht, kann sie einfach ein paar Schritte zum Fluss oder in den nahegelegenen Wald gehen. Alles liegt direkt vor die Tür.
Die Ankunft in Klein Priebus wurde den beiden Zugezogenen seinerzeit leicht gemacht, berichten sie. Da vor allem viele junge Leute die Region im äußersten Osten Deutschlands verlassen hätten, sei die Freude umso größer, wenn jemand kommt. Eine Anwohnerin brachte gleich selbstgebackenen Kuchen vorbei, als die neuen Nachbarn erstmals am Haus werkelten. "Sie hätte uns später am liebsten weiter mit Essen versorgt", erinnert sich Jan Hufenbach.
Man hilft sich gegenseitig, wissen der 58-Jährige und seine Partnerin mittlerweile. Waren sie abends unterwegs, konnten sie immer wieder auf Celine zählen. Die Schülerin wohnt mit ihren Eltern im Haus schräg gegenüber und hat oft auf Jasper aufgepasst. Inzwischen mag ihr Sohn keine Babysitterin mehr haben, verrät Arielle Kohlschmidt. Celine kommt dennoch gelegentlich zu Besuch, wenn sie sich mit Jaspers Vater über neueste Musikvideos austauschen will oder dessen Rat beim Instrumentieren sucht.
Traktortreffen "Alle im Dorf wissen: Es geht nur miteinander", sagt Hufenbach. Das sieht Stefan Hofmann ähnlich, der 1996 nach Klein Priebus kam und ebenfalls Zugezogener ist. "Wer sich gesellschaftlich einbringt, kommt an. Ansonsten bleiben Sie immer der Stadtmensch", stellt der große, stämmige Mann klar. Er führt eine Pension mit zehn Zimmern sowie eine Gastwirtschaft mit Biergarten, den "Neisse-Treff" direkt am Oder-Neiße-Radweg. Außerdem gehörte er zur Gruppe der Enthusiasten, die 2005 das "Traktortreffen" im Dorf aus der Taufe hoben. Wenn es nicht gerade wie 2021 Corona-bedingt ausfallen muss, findet dieses Fest alle zwei Jahre statt. Besucher strömen dann in Scharen aus der gesamten Lausitz nach Klein Priebus.
Vor einigen Jahren borgten sich Dorfbewohner Kamera und Stativ bei Arielle Kohlschmidt, um das Traktortreffen akribisch zu dokumentieren. Die Herausforderung bestand später darin, aus sechs Stunden Material einen kurzen Film zu produzieren. "Kurzerhand schnitt ich einen lustigen Zehn-Minüter, der alle großen Momente komprimiert in sich hatte", erinnert sie sich. Wenig später wurde als Dank eine Trecker-Ladung Spaltholz vor ihrem Haus abgeladen.
Sich nicht abzugrenzen, sondern mitzumachen und sich auf andere Perspektiven einzulassen, hat dem kreativen Paar offensichtlich Anerkennung eingebracht. Es klingt durchaus respektvoll, wenn die Leute im Ort inzwischen von "unseren Künstlern" sprechen. In manchen Dingen gehen die Ansichten freilich auseinander. "Bei uns klappt es mit dem Entgrünen des Fußwegs nicht so richtig", gesteht Arielle Kohlschmidt. Die fleißigen Nachbarn zeigten doch sichtlich mehr Ehrgeiz, die Fläche vor dem Zaun unkrautfrei zu halten.
Überhaupt werden die Aktivitäten von Kohlschmidt und Hufenbach neugierig beobachtet, nachdem sie 2015 die "Raumpionierstation Oberlausitz" gründeten. Seither beraten sie andere, die aufs Land umsiedeln wollen, indem sie von Erfahrungen abseits der Ballungsräume berichten. Auskunft geben sie dazu am Telefon, per E-Mail oder im direkten Gespräch vor Ort. Die Leute sitzen dann bei ihnen auf dem Sofa oder im idyllischen Garten und stellen gezielt Fragen. "Wir sind keine professionellen Berater, sondern zeigen einen ganz konkreten Landeplatz", sagen die beiden.
Aus allen Ecken Deutschlands kamen über die Jahre Anfragen, am häufigsten aus Berlin und Dresden. Das Paar führt keine Statistik, doch gefühlt seien es viele Hundert Kontakte gewesen. Deutlich mehr Frauen als Männer melden sich, meist ab 35 Jahren, selten darunter. Die älteste Interessentin war eine 78-jährige Frau aus Berlin, die mit anderen eine Lebensgemeinschaft auf dem Lande gründen wollte.
Stadtflucht "Wir haben viele Menschen getroffen, die Chancen in diesem unbespielten Raum sehen", sagt Arielle Kohlschmidt. "Für Leute, die ortsunabhängig arbeiten können, ist der ländliche Raum interessant." Dass die Corona-Pandemie die Flucht aus der Stadt zusätzlich befeuert hat, belegen verschiedene Studien. Das Meinungsforschungsinstitut Kantar (früher Emnid) veröffentlichte jüngst Ergebnisse, wonach sich 53 Prozent der deutschen Stadtbevölkerung vorstellen können, in den nächsten ein oder zwei Jahren aufs Land zu ziehen.
Damit dürfte der Zuspruch innerhalb weniger Monate noch einmal zugenommen haben. Laut einer GfK-Studie vom November vergangenen Jahres gaben seinerzeit etwa 41 Prozent der Bewohner von Städten an, dass sie einen Umzug aufs Land für denkbar hielten. 21 Prozent davon wollten diesen Schritt "ganz sicher" tun.
"Es braucht Mut, um in die schwarze Kiste zu springen und loszulassen", sagt Arielle Kohlschmidt. In einer Großstadt ist es selbstverständlich, ins Café um die Ecke oder ins Kino zu gehen. In Klein Priebus gibt es dagegen keinen einzigen Laden. Allenfalls kommt einmal in der Woche ein Bäckerauto vorbei. Für den Weg zum nächsten Einkaufsmarkt sind mindestens 15 Kilometer zurückzulegen, ebenso wie zum Arzt oder zur Schule.
Politische Kontroversen "Gibt es hier Nazis?" ist eine Frage, die Kohlschmidt und Hufenbach von Besuchern der "Raumpionierstation" oft gestellt wird. Sie erzählen dann vom Zusammenleben und der Stimmung in der Region. Klein Priebus liegt in dem Wahlkreis, in dem der langjährige CDU-Abgeordnete Michael Kretschmer bei der Bundestagswahl 2017 dem bis dahin unbekannten AfD-Kandidaten Tino Chrupalla unterlag. Der heutige sächsische Ministerpräsident hatte sich damals keinen Plan B zurechtgelegt, falls er das sicher geglaubte Direktmandat verlieren würde.
Tatsächlich hat die AfD eine große Anhängerschar in Sachsen. Bei der Wahl zum Landtag kam die Partei 2019 auf immerhin 28,4 Prozent der Stimmen. Gut 40 Prozent waren es sogar in der Gemeinde Krauschwitz, zu der Klein Priebus als südlichster Ortsteil gehört. Nur ein paar Kilometer weiter südlich liegt Neißeaue, die Kommune, in der es die AfD mit fast 50 Prozent auf den höchsten Stimmanteil in ganz Sachsen brachte.
"Die Leute wählen hier konservativ", glaubt der Bürgermeister von Krauschwitz, Tristan Mühl (Freie Wähler). Er bewarb sich 2019 um das Amt, gewann überraschend und das gleich im ersten Wahlgang. Sowohl die Kandidatin der Linken als auch den CDU-Bewerber ließ er hinter sich. Materiell geht es den meisten Leuten in der Gemeinde scheinbar gut. In den gepflegten Grundstücken steckt sichtlich Geld und wohl auch viel Eigenleistung. Dennoch fühlen sich die Menschen abgehängt.
Mühl nennt es Politikverdrossenheit und kommt rasch auf die Diskussion um das Geld zu sprechen, das als Ausgleich für den Kohleausstieg in Aussicht gestellt wurde. Die Braunkohlereviere Deutschlands sollen bis 2038 insgesamt 40 Milliarden Euro erhalten, die Lausitz davon allein 18 Milliarden. Inzwischen sind die ersten regionalen Projekte bestätigt, um die Folgen des Strukturwandel zu bewältigen.
»Massig Platz« Doch es regt sich Unmut, was die Verteilung der Mittel betrifft. So soll für rund 16 Millionen Euro das leerstehende Kulturhaus in Bischofswerda wiederbelebt werden, einer Stadt, die näher an Dresden liegt als an den Standorten des Lausitzer Energieunternehmens LEAG. "Was hat das mit Strukturwandel zu tun?", fragt der Krauschwitzer Bürgermeister. "Das verstehen die Leute nicht." Einwohner seiner Gemeinde interessiere hingegen mehr, wann die langersehnte Umgehung für die Bundesstraße 115 gebaut wird und weshalb es so schwierig ist, Mittel für die Modernisierung der Oberschule im Ort zu bekommen.
Gastwirt Stefan Hofmann sieht ein weiteres Feld, wo die Regierung Anreize schaffen sollte. Er sorgt sich wegen der schlechten medizinischen Versorgung. "So etwas fördert keinen Zuzug", findet der 58-Jährige. Es gebe "massig Platz", allerdings fehle es an Arbeit. Er selbst lebt vom Tourismus und macht nach eigenen Angaben lediglich zwei Prozent seines Umsatzes mit Einheimischen.
Bevölkerungsschwund Derzeit zählt Krauschwitz rund 3.400 Einwohner in sechs Ortsteilen. Der Flächengemeinde mit ihren 22 Kilometern Länge wird prognostiziert, dass die Bevölkerungszahl bis 2035 um zehn Prozent abnehmen wird, sagt Bürgermeister Mühl. Arielle Kohlschmidt und Jan Hufenbach werben unterdessen weiter für die Vorteile des Lebens auf dem Land. Gerade bereiten sie die dritte "Landebahn für Landlustige" vor. Nach Stationen in Weißwasser und Görlitz laden sie am 18. September in den Muskauer Park ein. Im Unesco-Welterbe sollen sich dann Menschen treffen, die bereits in der Lausitz leben oder noch dazu kommen wollen.
Auch anderswo geben bereits "Raumpioniere" ihre Erfahrungen an Leute weiter, die neugierig aufs Landleben sind. Im Nordosten Deutschlands haben sich drei Ableger der Oberlausitzer Initiative gebildet: in West-Mecklenburg zwischen Lübeck und Schwerin, in einem kleinen Dorf in der Prignitz ganz im Nordwesten Brandenburgs sowie zuletzt für Vorpommern in Loitz an der Peene. Eine weitere Anlaufstelle könnte es bald in Hoyerswerda geben. Kohlschmidt und Hufenbach freuen sich jedenfalls, dass die Idee Früchte trägt.
Im nächsten Jahr soll endlich ihr "Zukunftskino" in Klein Priebus über die Bühne gehen. Es war schon für 2020 in der Gastwirtschaft von Stefan Hofmann geplant, fiel jedoch der Corona-Krise zum Opfer. Mit "Zeit für Utopien" haben die Organisatoren einen Dokumentarfilm ausgesucht, in dem Initiativen vorgestellt werden, die Gemeinsinn fördern sollen und Alternativen zum Profitstreben anbieten. Arielle Kohlschmidt hofft, dass die Zuschauer danach miteinander ins Gespräch kommen und einen "netten Abend" haben. Das dürfte ganz im Sinne von Bürgermeister Mühl sein, der sagt: "Dorfkultur lebt von Gemeinschaft."
Die Autorin ist freie Journalistin in Görlitz.