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Großbritanniens Speakers' Corner : Letzte Worte unter dem Galgen

Sonntagnachmittags finden sich Debattenhungrige, Schaulustige und Touristen im Londoner Hyde Park ein, um ihrem Ärger über das Weltgeschehen Ausdruck zu verleihen.

30.08.2021
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2 Min

Seit Beginn der Corona-Pandemie macht die Speakers' Corner erneut Schlagzeilen. Der Grund: Englands Anti-Lockdown-Gegner haben den historischen Ort in der nordöstlichen Ecke des Londoner Hyde Park ausgesucht, um von dort immer wieder Richtung Downing Street zu marschieren.

Als Sammlungspunkt von Kritikern macht die Speakers Corner ihrem historischen Ruf alle Ehre. Seit mehr als 150 Jahren ist der breite Spazierweg im Schatten des Marble Arch per Gesetz öffentlicher Platz der freien Rede. Traditionell am Sonntag nach Mittag finden sich Debattenhungrige, Schaulustige und Touristen ein, um jedwedes Thema zu diskutieren. Dutzende Redner, manche in Kostümen, postieren sich auf Trittleitern, Kisten oder am Wegesrand, um ihrem Ärger über das Weltgeschehen Ausdruck zu geben. An einem Julisonntag hat sich einer von ihnen in eine Toga gewickelt, um auf seinen Protest gegen das "tyrannische Regime" in Teheran aufmerksam zu machen. "So wie du angezogen bist, würden sie dir im Iran den Kopf abhacken", ruft er einem Mädchen im Minirock hinterher.

Ein paar Meter weiter stehen acht junge Männer. Sie haben zwei sich gegenüberstehende Halbkreise gebildet, die Stimmung ist angespannt. "Was heißt Ehre? Wer definiert, was Ehre ist?", fordert einer der Männer die andere Gruppe heraus. "Und wer definiert, wie Gott zu ehren ist?", gibt einer der Angesprochenen zurück. Die anderen tippen derweil hektisch in ihre Smartphones, um ihre Argumente mit schnell gegoogelten Fakten zu untermauern.

Symbolischer Ort: Kämpfe für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Jahr 1866

Religion, Geschichte, Politik, Krieg - alles darf an der Speakers' Corner auf der Agenda stehen. Was nicht heißt, dass Redner Immunität besitzen, bisweilen gibt es Anzeigen wegen Diffamierung. Als Forum der freien Rede ist der Platz im Zeitalter der sozialen Medien allerdings ein symbolischer Ort geworden. Die Reform League, angeführt von Mitgliedern der International Workmen's Association, lieferte sich hier 1866 für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts Schlachten mit der Polizei. 1872 erließ das Parlament ein Gesetz, das dort fortan die freie Rede ausgeübt werden dürfe.

Die Geschichte der Speakers' Corner reicht aber weiter zurück. Am Marble Arch fanden seit Ende des 12. Jahrhunderts öffentliche Hinrichtungen statt. 1571 wurde hier der "Tyburn Tree" errichtet, der städtische Galgen. Die zum Tode Verurteilten durften kurz vor der Exekution ihre letzten Worte sprechen. Die Plattform wurde so zur Rednerbühne. Etwa im Fall Tausender Katholiken, die nach der Abspaltung von Rom unter Heinrich VIII. für ihren Glauben mit dem Leben bezahlten. Oder für bettelarme Kriminelle, die in ihren letzten Minuten die Unterdrückung des Volks durch die Besitzenden anprangerten. Bis heute versteht die Linke im Land die Speakers Corner als Ort des Aufstands des von der Oberklasse missbrauchten Proletariats. Unbestritten ist sie ein Ursprungsort der britischen Demokratie.

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.