STAATSAUFBAU : Ende einer Ära
Beim »State and Nation Building« fehlt es oft an Strategie, verlässlichen Partnern und Geduld
US-Präsident Joe Biden hat mit dem Abzug aus Afghanistan nicht nur einen unpopulären Krieg beendet, sondern nach eigenem Bekunden gleich eine ganze Ära abgeschlossen. Die Epoche des großformatigen "Nation Building" sei für die USA angesichts der bescheidenen und häufig enttäuschenden Ergebnisse vorbei. Stattdessen werde sich seine Regierung nunmehr dem "Nation Building" in den USA widmen. Ohne die Intentionen des US-Präsidenten genau zu kennen, ist es wahrscheinlich, dass er eigentlich das Ende des "State Building" ankündigen wollte, bei dem es im engeren Sinne um den Aufbau staatlicher Institutionen in anderen Ländern geht, häufig nach dem Vorbild westlicher Demokratien und basierend auf deren normativen Prinzipien wie beispielsweise Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Unter "Nation Building" wird eher der damit häufig verbundene Prozess einer politischen Entwicklung verstanden, der aus locker oder auch strittig verbundenen Gemeinschaften eine gemeinsame Gesellschaft mit einem entsprechenden Staat entwickelt.
Eindeutige Botschaft Aber abgekoppelt von den changierenden Begriffen ist die Botschaft des amerikanischen Präsidenten eindeutig: Amerika beziehungsweise der Westen sei in den vergangenen Jahrzehnten unter verschiedenen Umständen mit dem Versuch gescheitert, ein Land zu einer liberalen Demokratie umzubauen, so zum Beispiel im Irak, in Afghanistan oder in Somalia. Auch wenn die europäischen Regierungen sich verhaltener äußern, teilen auch Politiker diesseits des Atlantiks die Einschätzung Bidens.
Trotz vieler Unterschiede im Detail lassen sich vier Probleme identifizieren, die allen militärischen Einsätzen zum "State and Nation Building" gemein sind und dauerhafte Erfolge erschwert beziehungsweise verhindert haben:
Da diese Operationen in der Regel durch eine multinationale Koalition durchgeführt werden, ist erstens auf der Seite der Intervenierenden nicht nur eine große Akteursvielfalt, sondern vor allem eine große Bandbreite von Zielen anzutreffen, sich an derartigen Militäreinsätzen zu beteiligen. So nahmen manche Länder an der Afghanistan-Mission der Nato vor allem teil, um ihre Solidarität mit den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auszudrücken. Manche setzten ihren Schwerpunkt auf die Bekämpfung dschihadistischer Gruppen. Wieder andere sahen ihre Aufgabe vornehmlich im Aufbau staatlicher Institutionen. So war es schwer, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, um das Handeln aller nationalen Kontingente kohärent auszurichten. Eine solche Strategie hätte es erlaubt, Fortschritte bei der Mission zu messen sowie einen Abzug der internationalen Gemeinschaft vorzubereiten.
Zweitens verfügen westliche Regierungen selten über politische Partner im Land, die für Einfluss in ihrem Sinne offen sind. Häufig handelt es sich um Regierungen, deren Legitimation fraglich ist, die nur einen Teil der Bevölkerung repräsentieren und lediglich in begrenztem Umfang staatliche Dienstleistungen anbieten. Zudem erschweren sie es, das internationale Engagement zu beenden. Die Aufrechterhaltung des Status quo bietet ihnen die Möglichkeit, weitere Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft zu erhalten. So widersetzte sich auch die Regierung von Präsident Ghani amerikanischem Bemühungen um eine Regierungsbeteiligung der Taliban, da sie glaubte, aufgrund ihrer Wahl 2019 über ausreichend internationale diplomatische Anerkennung und nicht endende politische wie finanzielle Unterstützung des Westens zu verfügen.
Schwache Hebel Drittens besitzen die intervenierenden Staaten nur schwache Hebel auf die Akteure im Land und noch schwächere auf regionale Anrainer. Zwar ist in solchen Kontexten häufig von Konditionalität die Rede, Fortschrittsberichte und Erfolgskriterien suggerieren bürokratische Effizienz. Aber politische Erfolgsvorgaben machen diese zumeist zu einem stumpfen Schwert. Dass zum Beispiel die afghanischen Streitkräfte nur bedingt selbstständig einsatzbereit gewesen sind und die Nato weit von einem erfolgreichen Abschluss der Mission entfernt war, afghanische Sicherheitskräfte aufzubauen, die auf dem gesamten Territorium Afghanistans für Sicherheit sorgen könnten, war kein Geheimnis. Aber Sanktionen gegen die afghanische Regierung und eine aktivere Einmischung hätten den Anschein lokaler "ownership" zerstört und den Einsatz karikiert, der aus politischen Gründen erfolgreich zu enden hatte.
Viertens verfügen Demokratien nicht über die ausreichende Geduld, einen solchen Einsatz zeitlich und materiell unbegrenzt fortzuführen. Wechselnde außenpolitische Schwerpunkte verhindern häufig eine kontinuierliche Priorisierung. Die notwendige politische Zustimmung erodiert. Dies ist einer der Gründe, warum sich zahlreiche westliche Staaten bereits vor Jahren aus der Afghanistan-Mission zurückgezogen haben. Nach dem Fall Kabuls und der Machtergreifung der Taliban werden aller Voraussicht nach weder die Nato noch die EU bereit sein, vergleichbare Einsätze zukünftig zu schultern.
Der Autor leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).