ULTRAORTHODOXE : Ein Leben mit oder ohne Gott
Besht Yeshiva hilft Aussteigern
Die Welt, aus der Moshe Barnett kommt, kennen die allermeisten Menschen nur aus dem Fernsehen. Zwei Netflix-Produktionen - "Unorthodox" und "Shtisel" - haben in den letzten Jahren einen Teil des jüdischen Lebens sichtbar gemacht, der vielen verborgen bleibt: den der Ultraorthodoxen. Es ist ein Leben mit vielen Regeln; Vorgaben zu Kleidern, Frisuren, Mahlzeiten. Und zahlreichen Verboten. Gefragt, ob "Shtisel" eine realistische Darstellung seiner Vergangenheit ist, muss Moshe Barnett erst lachen und denkt dann länger nach. "Es zeigt das Leben in einer sehr spezifischen Gemeinde in Jerusalem", sagt er schließlich, "aber ja: Für die vermittelt es einen recht guten Einblick."
Moshe Barnett hat die Welt der Ultraorthodoxen vor zwei Jahren verlassen. Eigentlich war sein Weg vorgezeichnet. Als Ältester von zehn Geschwistern besuchte er eine Religionsschule, spätestens ab dem 13. Lebensjahr nahm die Religion den zentralen Platz in seinem Leben ein - mit religiösen Studien von sieben Uhr morgens bis zehn Uhr am Abend. Als Teenager habe die Idee, alles im Leben müsse sich dem Willen Gottes unterordnen, den Mittelpunkt seines Denkens eingenommen, erinnert er sich. "Aber dann habe ich mir mehr und mehr Fragen gestellt. Und irgendwann wusste ich: Ich glaube nicht mehr an den ultraorthodoxen Gott. Da habe ich die Verbindung zu diesem Leben verloren."
Ohne das Wissen seiner Eltern verließ er die Religionsschule und ging zu einer weltlichen Schule, beschloss schließlich, Israel ganz zu verlassen und nach Deutschland zu gehen.
Kulturschock So wie Moshe Barnett geht es vielen. Rund 1,3 Millionen Juden leben Schätzungen zufolge in ultraorthodoxen Gemeinden, die meisten von ihnen in Israel oder New York. Sie führen ein Leben, das mit dem normalen Alltag etwa in Westeuropa nur sehr wenig zu tun hat - das gilt in vielfacher Hinsicht als sündig. Etwa zehn Prozent der Ultraorthodoxen würden ihre Gemeinschaft verlassen, schätzt Rabbi Shlomo Tikochinski, "weil sie mit diesem sehr reglementierten Leben nicht klarkommen". Der 54-Jährige ist Rabbiner in Dresden - und Mitbegründer der Besht Yeshiva Dresden zusammen mit Rabbi Akiva Weingarten. Die Yeshiva hilft Aussteigern wie Moshe Barnett. Denn Hilfe sei dringend nötig, wenn jemand die ultraorthodoxe Welt verlasse. Dieser Schritt sei für viele ein Kulturschock: "Sie müssen alles lernen. Sie haben nie gelernt, ein Konto zu eröffnen oder einen Ausweis zu beantragen. Die jungen Männer werden dazu erzogen, ein Familienoberhaupt zu sein - aber sie sind nie in ihrem Leben in der Küche gewesen, haben sich niemals um ihre Kleidung gekümmert. Die Mädchen wurden vorbereitet, den Haushalt zu führen und Kinder zu erziehen." Für sie sei es noch schwieriger zu gehen, weil sie kaum Kontakt außerhalb der Familie hätten. Aussteiger müssten überhaupt erst einmal lernen, eigene Entscheidungen zu treffen - und irgendwie in einer Welt klarzukommen, in der es niemanden mehr gebe, der einem den Weg vorgebe. Viele von ihnen würden die Entscheidung, die Gemeinde zu verlassen, aus großer Not treffen: "Sie sagen, sie hätten lieber Selbstmord begangen, als weiter so zu leben." Einige - so wie Moshe Barnett - könnten den Kontakt in das alte Leben halten, andere würden komplett mit der Familie und den alten Freunden brechen. Das sei besonders hart.
Neue Perspektiven Aktuell hat die Yeshiva 15 Schüler, die sich hier mit dem jüdischen Glauben auseinandersetzen, neue Perspektiven für ihre Zukunft gewinnen und ihre eigene Entwicklung reflektieren können. Sie können ihren Schulabschluss nachholen und ein Studium starten. Und eine neue Haltung zu ihrer Herkunft und ihrem Glauben finden - und selbst entscheiden, ob und wie sie ihre Religion künftig leben wollen.
In diesem Prozess steckt auch Moshe Barnett. Sei sieben Monaten lebt er in Dresden. Auf das Aussteigerprogramm sei er von seinem Mathematiklehrer aufmerksam gemacht worden. "Ich habe dann kurz überlegt - und mir war klar: Das ist eine gute Sache, das probiere ich aus." In Dresden lernt er Deutsch, will am liebsten ein Mathematik-Studium beginnen. Beim Ankommen hilft ihm Shlomo Tikochinski. Auch der Rabbi hat früher ultraorthodox gelebt, bezeichnet sich aber als liberaler als früher. Während viele Aussteiger sehr radikal über ihre frühere Gemeinschaft urteilen, sie als Sekte bezeichnen und mit der nordkoreanischen Diktatur vergleichen, äußern sich Tikochinksi und Barnett viel vorsichtiger über ihre alte Heimat. Ja, die Welt der Ultraorthodoxen sei sehr strikt und habe mit dem modernen Leben nur wenig zu tun, sagen sie, aber es ist zu spüren, dass sie ihr noch immer verbunden sind; sie ihr altes Leben nicht verdammen wollen.
Am wichtigsten sei, so sagen beide, dass es möglich sei, ein anderes jüdisches Leben zu führen, bei dem die Religion nicht im Mittelpunkt stehe. "Es ist egal, wie oft jemand betet oder ob er es überhaupt tut", sagt Tikochinsko, "es geht darum, eine Verbindung zu unserer Kultur haben zu können". Dazu könne Gott gehören oder eben nicht. Aber auch säkulare Juden könnten die jüdischen Feiertage feiern und ihre Traditionen bewahren. Ihm sei wichtig, den Studierenden der Yeshiva ein anderes Bild des Judentums zu vermitteln als sie es in ihrer Vergangenheit kennengelernt hätten. "Es ist wichtig, die Welt zu kennen und zu wissen, wie andere Menschen leben. Wer das nicht tut, lebt eindimensional", sagt der Rabbi. "Mit neuen Perspektiven weitet sich die Wahrnehmung - und dann ist eine Entscheidung darüber möglich, wie wir leben wollen."
Doch nicht nur den Aussteigern soll die Besht Yeshiva, die ausschließlich aus Spenden finanziert wird, eine neue Perspektive geben. Sie seien sehr eng mit der lokalen jüdischen Gemeinde verbunden, sagt Tikochinski - und würden sie so unterstützen. Die Corona-Pandemie mit ihren Kontaktbeschränkungen habe das sehr erschwert. Aber schon im April sollen neue Schüler kommen, die Yeshiva wird dann eine weitere Klasse eröffnen. "Dann werden wir hoffentlich auch sichtbarer in der Gemeinde."