IMMIGRANTEN : »Sie sind die Zukunft«
Nach 1945 erlebte Deutschland drei ganz unterschiedliche Wellen der jüdischen Einwanderung
Als der Rabbiner Leo Baeck, Führungsfigur des deutschen Judentums, im Frühjahr 1945 aus dem Konzentrationslager Theresienstadt befreit worden war, machte er eine düstere Aussage: "Unser Glaube war es, dass deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion - die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei."
Tatsächlich waren die Perspektiven für jüdisches Leben in Deutschland 1945/46 deprimierend. Von den 500.000 Juden beim Machtantritt der Nazis 1933 hatten 1945 nach Mord und Vertreibung gerade einmal 15.000 Menschen in Deutschland überlebt. In KZs und Lagern, im Untergrund und Versteck. Von Verfolgung und Torturen gezeichnet, waren die meisten Überlebenden alt, gebrechlich, krank und hilfebedürftig. Es erschien nur eine Frage der Zeit, wann jüdisches Leben in Deutschland endgültig verlöschen würde. Zwar gründeten sich wieder Gemeinden in Berlin, München, Nürnberg, Frankfurt am Main, Köln, Düsseldorf, Hamburg. Trotzdem kursierte der Begriff "Gemeinden in Abwicklung", viele ihrer Mitglieder sprachen davon, "auf gepackten Koffern" zu sitzen. Internationale jüdische Organisationen schnitten jahrelang die kleinen Zirkel, verlangten wiederholt die Auflösung. Jüdische Exilanten blieben aus, von 1945 bis 1952 kamen nur 2.500 zurück. Neues jüdisches Leben? Allenfalls eine Übergangsexistenz. Dass die Entwicklung anders verlief, ist allein der beständigen Einwanderung von Juden aus dem Ausland geschuldet, der Hypothek des Holocaust zum Trotz.
Eine erste Einwanderungswelle deutete sich bereits Ende 1945 an. Mehr und mehr Juden, aus Polen, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Litauen, strandeten im Nachkriegsdeutschland - Flüchtlinge, mit denen niemand gerechnet hatte. Sie verließen ihre Heimatländer aufgrund eines neuerlichen aggressiven Antisemitismus in den östlichen Umbruchgesellschaften. Das Pogrom von Kielce wurde zum Signal: Am 4. Juli 1946 erschlug ein aufgebrachter Mob in der polnischen Stadt 42 Juden. Danach entwickelte sich die Flucht zum Massenexodus.
»Displaced Persons« Bis Ende 1947 gelangten etwa 250.000 osteuropäische Juden nach Deutschland. Ihr Ziel waren die Besatzungszonen der westlichen Alliierten, vor allem die der Amerikaner. In speziellen Lagern untergebracht und abgeschirmt gegenüber den Deutschen, gaben die Besatzungsmächte diesen Flüchtlingen den Status von Displaced Persons (DPs). Deren eigentliches Ziel war jedoch vorrangig Palästina, eben Eretz Israel; dann die USA, Südamerika, Australien - nur weit weg von Europa, dem verfluchten Kontinent.
Zunächst wollte niemand diese Flüchtlinge haben, sie saßen ihren Lagern fest, "befreit, aber nicht frei". Derweil formten sich die DP-Camps zu kleinen Einheiten wie vormals die traditionellen Schtetl in Osteuropa, mit Betsälen, Kultureinrichtungen, Schulen, Vereinen und Freizeitangeboten. Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 und mit revidierten Regeln in den USA, kam die Auswanderung in Gang. Dennoch dauerte die DP-Ära bis Anfang 1957, als das letzte Lager im bayerischen Föhrenwald bei Wolfratshausen geschlossen wurde. Von diesen jüdischen Flüchtlingen verblieben 12.000 bis 15.000 in der Bundesrepublik. Nach heftigen internen, auch kontroversen Diskussionen fanden sie Aufnahme in den jüdischen Gemeinden, in denen sie bald die Mehrheit bildeten. Durch diesen Neuzugang wuchs die Zahl der jüdischen Gemeinschaft auf etwa 30.000 Menschen.
Die zweite jüdische Einwanderungswelle begann Anfang der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung; sie erstreckte sich weit über ein Jahrzehnt. Der Runde Tisch der untergehenden DDR, in der zuletzt noch etwa 350 Juden lebten, entschloss sich 1989 zu einer versöhnlichen Geste: Die Bürgerbewegten luden die Juden in der Sowjetunion, dort nicht religiös, sondern ethnisch registriert, nach Ostdeutschland ein. Verwirklicht wurde das Projekt erst nach Vollzug der Einheit 1990. Aufgrund der Regelung für Kontingentflüchtlinge konnten Menschen mit familiärem jüdischen Hintergrund nunmehr nach Deutschland einreisen. Sie brauchten kein Asylverfahren zu durchlaufen, sondern erhielten im Rahmen einer "humanitären Hilfsaktion" die Aufenthaltserlaubnis. Bis 2004 kamen auf diese Weise rund 220.000 jüdische Zuwanderer.
Von diesen Kontingentflüchtlingen finden etwa 80.000 den Weg in die jüdischen Gemeinden und bilden dort überall die Mehrheit, manchmal sogar mit 80 Prozent. Vielfach führt diese Konstellation zu internen Konflikten mit den alten Mitgliedern wegen Sprachproblemen, sozialen Erfordernissen und fehlender religiöser Kultur. "Die Gemeinden sind im gewissen Sinne zu Sozialämtern und Sprachvermittlungsinstituten geworden", schreibt der Historiker Michael Brenner. Doch dadurch steigt die Zahl der jüdischen Gemeinschaft in den Gemeinden auf rund 100.000.
Der letzte Schub jüdischer Immigration ist ganz anderer Art. Es sind die zumeist jüngere Israelis, die sich seit einem Jahrzehnt vermehrt in Deutschland niederlassen, vor allem in Berlin. Die Einwanderung ist zunächst einmal ein Medienphänomen. Juden gehen freiwillig und aufgeschlossen in das "Land der Täter"? Das Thema sei wegen der deutsch-jüdischen Geschichte emotional hoch besetzt, analysiert die israelische Migrationsforscherin Dani Kranz in einer Studie; doch das Ausmaß werde überschätzt. Realistisch lässt sich ihre Zahl auf 15.000 bis 20.000 beziffern.
Die Liste der Motive dieser "dritten Generation" ist umfangreich. An erster Stelle stehen wirtschaftliche Gründe - für mehr als die Hälfte. Die Lebenshaltungskosten sind in Deutschland weit niedriger als in Israel. Es folgen Studium und Berufsausbildung. Die Gründung von Start-ups, vor allem im IT-Bereich, gelingt leichter. Die offene Gesellschaft der Bundesrepublik wirkt ebenfalls attraktiv, besonders für Kreative im kulturellen Bereich. Diesen Israelis, zumeist mit europäischem Familienhintergrund, ist die Historie stets bewusst; doch im Alltagsleben spielt sie kaum eine Rolle, fand Kranz heraus. Die jungen Leute "haben sich weit von der Vergangenheit entfernt". Nur wenige finden den Weg zu den Gemeinden. Dafür nutzen sie eigene Netzwerke. Allerdings haben 20 Prozent leidige Erfahrungen mit dem wachsenden Antisemitismus und Antiisraelismus machen müssen - ein Makel für Deutschland.
Das neue deutsche Judentum ist eine heterogene Gruppe. Allerdings mahnt Micha Guttmann, vormals Generalsekretär des Zentralrats der Juden, dringend Reformen in den Gemeinden an. Deren Mitglieder seien unzufrieden mit der internen Führungsstruktur. Vor allem die Jüngeren fühlten sich nicht vertreten, sagt er. Doch gerade deren Engagement werde gebraucht, "sie sind die Zukunft."