Interview : "Unsere Erkenntnisse sind bereits eingeflossen"
Michael Müller (SPD) leitet die Bundestags-Enquete, die Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz ziehen soll. Erste Ergebnisse helfen schon jetzt in Mali und Irak.
Herr Müller, was unterscheidet die Enquete-Kommission von dem parallel arbeitenden Untersuchungsausschuss Afghanistan?
Michael Müller: Während der Untersuchungsausschuss die unmittelbaren Umstände des Afghanistan-Abzugs vor zwei Jahren beleuchtet und Verantwortliche benennt, ist es Auftrag der Enquete-Kommission, den Gesamtzeitraum des 20-jährigen deutschen Afghanistan-Engagements zu beleuchten. Es geht darum, militärische, zivile und humanitäre Aspekte im Sinne einer Fehlerkultur zu analysieren und Empfehlungen mit Blick auf kommende Einsätze zu geben. Die Einsetzung einer Enquete-Kommission ist immer etwas Besonderes und ein Statement des Parlaments, welches Thema es als besonders wichtig erachtet. Nun wird dieses Instrument erstmals auf ein außen- und sicherheitspolitisches Thema angewendet.
Michael Müller (SPD) leitet seit September 2022 die Enquete-Kommission des Bundestages.
Der Kommission gehören neben 24 Abgeordneten auch Expertinnen und Experten aus Militär und Wissenschaft sowie von Nichtregierungsorganisationen an. Wie wirkt sich diese besondere Zusammensetzung auf die Arbeit aus?
Michael Müller: Die Experten haben ein gleichberechtigtes Rede- und Stimmrecht. Sie steuern zusätzlichen Sachverstand bei, was zu einer besonderen, sehr sachlichen Arbeitsatmosphäre führt, selbst wenn die einzelnen Fraktionen zu unterschiedlichen politischen Bewertungen kommen. Ich spüre bei allen Mitgliedern der Kommission den Willen zu einem konstruktiven Miteinander und eine große Ernsthaftigkeit gegenüber unserem Auftrag.
Welche Funktion haben die verschiedenen Arbeitsgruppen?
Michael Müller: Sie vertiefen die jeweiligen Einzelthemen. Es gibt eine Projektgruppe zu "Sicherheit und Stabilisierung", eine zum Thema "Ziviler Aufbau und Friedensförderung" und eine zum "Staats- und Regierungsaufbau". Auf diese Weise schauen wir uns Themen und Problemfelder jenseits der öffentlichen Anhörungen vertieft an, zum Beispiel den Aufbau von Justiz und Polizei sowie die Bekämpfung der Korruption und des Drogenanbaus in Afghanistan.
Ende des Jahres will die Kommission eine Zwischenbilanz vorlegen. Welche Erkenntnisse hat sie in ihrer ersten Arbeitsphase gewonnen?
Michael Müller: Wir hatten seit September 2022 zehn öffentliche Anhörungen mit vielen externen Sachverständigen. Durch ihre Stellungnahmen hat sich der Eindruck verdichtet, dass die Staatengemeinschaft den Afghanistan-Einsatz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 derart überstürzt begonnen hat, dass wir uns nicht hinreichend mit Kultur und Geschichte dieses Landes auseinandergesetzt haben. Auf deutscher Seite hätte zudem die Vernetzung ziviler und militärischer Kräfte sowohl vor Ort als auch in den Ministerien in Berlin stärker praktiziert werden sollen. Und es hätte bereits während dieses zwei Jahrzehnte dauernden Engagements eine laufende kritische Bestandsaufnahme geben müssen: Was können wir überhaupt leisten und was wollen wir erreichen?
Gibt es Lehren, die schon auf aktuelle Auslandseinsätze angewendet werden können?
Michael Müller: Erkenntnisse aus der laufenden Arbeit der Enquete-Kommission sind bereits jetzt eingeflossen, zum Beispiel in unser fortgesetztes Engagement im Irak oder die Beendigung der Mission in Mali. So haben wir uns immer wieder damit beschäftigt, wie sich die Zusammenarbeit mit einheimischen Kräften verbessern lässt. Dazu gewonnene Erfahrungen lassen sich schon jetzt übertragen und helfen beispielsweise bei der Frage, ob wir ein Mandat verlängern oder nicht.
Was für Schlussfolgerungen zieht die Enquete speziell für die Parlamentsarbeit? Was muss da künftig besser laufen?
Michael Müller: Vor allem bei der Frage institutioneller Veränderungen möchte ich dem Abschlussbericht nicht vorgreifen. Wir ziehen im Zwischenbericht erst einmal die Schlussfolgerungen aus der bis jetzt erfolgten Bestandsaufnahme. Da hat sich bereits herauskristallisiert, dass sich die institutionelle Zusammenarbeit der Ministerien verbessern und die parlamentarische Kontrolle besser vernetzt werden muss. Welche Formen das konkret annehmen sollte, ob es ein eigenständiges neues Gremium geben wird oder das Zusammenführen der Informationen in den bisherigen Strukturen geschehen kann, wird der Abschlussbericht empfehlen.
Was sollte mit dem durch die Enquete gewonnenen Wissen und den Empfehlungen idealerweise passieren?
Michael Müller: Zunächst einmal berichten wir unserem Auftraggeber, dem Deutschen Bundestag. Darüber hinaus ist die Arbeit der Enquete aber auch für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik insgesamt von Interesse, für die Bundesregierung, aber auch die Fachwelt und Nichtregierungsorganisationen. Gerade wegen der fundamental veränderten sicherheitspolitischen Lage weltweit und in Europa ist das öffentliche Interesse an der Arbeit der Enquete hoch. Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, da bleibt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik - und ihr Erfahrungswissen - gefordert. Wir halten übrigens nicht nur die Dinge fest, die in Afghanistan schlecht gelaufen sind, sondern schreiben auch auf, was gelungen ist. Das zwei Jahrzehnte lange zivile und militärische Engagement war nicht vergeblich. Es hat vielen Afghanen ein besseres Leben ermöglicht, von der Gesundheitsversorgung über den Zugang zu Bildung bis hin zum Ausbau der Infrastruktur. Davon bleibt einiges.
Wie geht es mit der Arbeit der Enquete nach der parlamentarischen Sommerpause weiter?
Michael Müller: Zunächst veröffentlichen wir Ende 2023/Anfang 2024 in einem Zwischenbericht die Ergebnisse der ersten Phase unserer Arbeit. Parallel dazu beginnt die zweite Phase, in der wir Schlussfolgerungen ziehen und diese politisch bewerten. Wir haben also noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns. Unser Ziel ist es, in der ersten Jahreshälfte 2025 den Abschlussbericht vorzulegen.