Friedensforscher Kühn im Interview : "Ein heikles Unterfangen für den Westen"
Der Hamburger Friedensforscher Ulrich Kühn über neues Wettrüsten, Diplomatie in Kriegszeiten und das Risiko von Waffenlieferungen in die Ukraine.
Herr Kühn, was bereitet Ihnen zurzeit am meisten Sorgen?
Ulrich Kühn: Natürlich der russische Krieg in der Ukraine. Ich fürchte, dieser erste generalstabsmäßig geplante, konventionelle Angriff auf einen anderen Staat kombiniert mit den Mitteln des nuklearen Zeitalters in Europa seit 1945 könnte noch Monate oder sogar Jahre andauern. Am meisten beunruhigt mich dabei der Umstand, dass wir die Motivation des russischen Präsidenten Wladimir Putin nicht kennen. Ist sein Expansionsinteresse allein auf die Ukraine fokussiert oder geht er darüber hinaus? Einige Analysten in den USA meinen, dass Putin mit diesem Krieg sein politisches Überleben verknüpft. Wenn das der Fall sein sollte, könnte nach 77 Jahren das nukleare Tabu gebrochen werden.
Im August 1945 warfen die USA Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Es war das erste und bislang letzte Mal, dass Nuklearwaffen in einem Krieg eingesetzt wurden. Warum sollte sich das jetzt ändern?
Ulrich Kühn: Letztlich halte ich dieses Szenario mit Blick auf die Ukraine immer noch für sehr unwahrscheinlich. In diesen Krieg sind nukleare Mächte involviert und US-Präsident Joe Biden hat klar gemacht, dass ein Angriff auf einen Nato-Staat ein Angriff auf alle wäre und in dem Fall die Beistandsklausel nach Artikel 5 des Nato-Vertrages greifen würde. Putin weiß und respektiert das bisher. Auch umgekehrt gilt: Die Nato schickt keine Truppen in die Ukraine, um russische Soldaten zu töten. So haben beide Seiten rote Linien gezogen. Aufgrund der räumlichen Nähe steigt allerdings die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Auseinandersetzung. Es besteht eine sehr dynamische Situation.
Würde die Nato anders agieren, hätte Russland keine Nuklearwaffen?
Ulrich Kühn: Definitiv, diese Waffen sind die Gamechanger in diesem Krieg. Ohne sie wären die Nato oder eine internationale Koalition der Willigen der Ukraine längst zur Hilfe geeilt. Aber schon die Lieferung schwerer Waffen ist eine Gratwanderung, sie macht uns zur indirekten Kriegspartei. Deshalb haben die USA Raketenwerfer geliefert, aber bewusst keine Munition, die weiter fliegt als 70 Kilometer und damit möglicherweise auf russisches Territorium. Für den Westen ist es ein heikles Unterfangen, die Grenzen des Möglichen zu verschieben, wenn niemand weiß, wo genau sie verlaufen.
Wenn die Atommacht Russland einen konventionellen Krieg gegen die Ukraine führen kann, ohne befürchten zu müssen, dass die Nato oder andere Staaten direkt intervenieren, wie gerecht ist es dann, ihr militärische Hilfe vorzuenthalten?
Ulrich Kühn: Der nukleare Frieden ist ein höchst ungerechter. Von ihm profitieren weiße und gut situierte Gesellschaften wie wir genauso wie autokratische Regime in Russland, Nordkorea und China. Der Frieden ist daher sehr ungleich verteilt. Länder, die keine Atomwaffen haben oder nicht von Nato oder EU beschützt sind - wie die Ukraine, Moldau, die Staaten des Südkaukasus oder die Balkanstaaten - werden auch in Zukunft immer wieder Hot Spots der Unsicherheit sein, weil die Nuklearmächte dort mit gegenläufigen Interessen agieren, direkte Zusammenstöße aber unbedingt vermeiden müssen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Russland auch für uns Europäer weiterhin ein massives Sicherheitsproblem darstellen wird. Trotz der harten Sanktionen werden wir Russland nicht mehr so stark isolieren können, wie noch im Kalten Krieg. Zwar wird sich Europa letztlich völlig entkoppeln, aber ein Großteil der Staaten wird weiterhin mit Moskau Geschäfte machen und russisches Öl und Gas importieren.
Die Antwort des Westens auf diese Situation lautet in erster Linie Abschreckung. Allein Deutschland steckt in den nächsten Jahren 100 Milliarden Euro zusätzlich in seine Streitkräfte, die Nato will einen Raketenabwehrschirm im Osten aufbauen und ihre Präsenz im Baltikum weiter verstärken. Beginnt mehr als 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ein neuer, womöglich nuklearer Rüstungswettlauf?
Ulrich Kühn: Wir werden klare Aufrüstungsbestrebungen erleben. Auch die Anforderungen an Deutschland werden weiter zunehmen. Das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen für die Bundeswehr wird nur der Beginn einer längerfristigen Entwicklung sein, weil die USA und die osteuropäischen und baltischen Staaten nach Berlin schauen und fragen werden: Was tut ihr? Wo unterstützt ihr uns? Und sicher werden auch Nuklearwaffen wieder eine größere Rolle spielen, sowohl für Russland als auch für den Westen. Für Russland werden sie wichtiger, weil es nach dem Ukraine-Krieg nur noch über ein geschwächtes, konventionelles Militär verfügen wird. Auch in der Nato könnte es, befürchte ich, wieder Diskussionen darüber geben, ob sie mehr Nuklearwaffen braucht.
Dabei ist erst 2021 der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft getreten, eine internationale Vereinbarung, die bisher mehr als 50 Staaten ratifiziert haben. Aber dass sie eingehalten wird, ist wohl mehr denn je illusorisch.
Ulrich Kühn: Ja, und das nicht nur wegen Russland, sondern auch wegen des zunehmenden Spannungsverhältnisses zwischen den USA und der aufsteigenden Macht China. Das befeuert regionale Unsicherheiten in Südostasien und Rüstungswettläufe im konventionellen und im nuklearen Bereich. Bereits seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Atommächte qualitativ aufrüsten. Man muss heute nicht mehr mit so und so viel tausend neuen Sprengköpfen aufwarten, es reicht schon, Mehrfachsprengkörper und neue Trägersysteme zu entwickeln. Und das wird noch zunehmen. Ich hoffe sehr, dass die AVV-Bewegung angesichts dieser frustrierenden Realität nicht erlahmt. Es ist enorm wichtig für die globale Sicherheit im 21. Jahrhundert, dass Nuklearwaffenstaaten und Nicht-Nuklearwaffenstaaten im Gespräch bleiben und das Langzeitziel nuklearer Abrüstung nicht in Frage gestellt wird.
Luftaufnahme der Stadt Hiroshima nach Abwurf der ersten Atombome im Jahr 1945. "Little Boy" kostete 80.000 Menschen unmittelbar das Leben.
In den vergangenen 20 Jahren hat es aber eine regelrechte Erosion von Rüstungskontrollverträgen gegeben; erst haben die USA, dann Russland wichtige Abkommen aufgekündigt. Wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es nach dem Ukraine-Krieg zu neuen Verträgen zwischen Russland und dem Westen kommt?
Ulrich Kühn: Ich kann mir das tatsächlich schon in ein paar Jahren vorstellen, denn im nuklearen Zeitalter ist das im gemeinsamen Interesse. Die Rüstungskontrolle wird nicht überflüssig, weil gerade Krieg herrscht. Deshalb wird beispielsweise ein Vertrag wie der New Start-Vertrag über die Begrenzung strategischer Waffen zwischen Russland und den USA weiterhin von beiden Staaten problemlos implementiert. Keiner hat ein Interesse daran, dass der andere alles macht, was er will oder kann. Ein solcher Vertrag ermöglicht Russland außerdem Einblicke in den Zustand der US-amerikanischen Nuklearstreitkräfte und umgekehrt. Diese Argumente sprechen alle für Rüstungskontrolle. Sie wird auch für die Sicherheit in Europa wieder sehr wichtig werden.
Wie aber soll Sicherheit ohne Vertrauen funktionieren? Akteure wie Kreml-Chef Putin oder der russische Außenminister Sergej Lawrow haben aus Sicht des Westens jedwedes Vertrauen verspielt.
Ulrich Kühn: Das ist richtig und es erscheint als völliger Wahnsinn, wieder von Vertrauen zu sprechen. Aber das ist ein bisschen ein Henne-Ei-Problem. Braucht man erst Vertrauen, um Rüstungskontrolle zu schaffen, oder erst Rüstungskontrolle, um Vertrauen aufzubauen? Ich glaube letzteres. Harte Rüstungskontrollverträge enthalten immer eine Überwachungskomponente und so kann mit der Zeit neues Vertrauen aufgebaut werden. Ob man mit Putin darüber hinaus über größere Projekte wie eine künftige europäische Sicherheitsarchitektur sprechen kann, bezweifle ich allerdings stark. Mit diesem russischen Führer ist auf der weiteren politischen Ebene wohl nichts mehr zu machen.
Viele hoffen, dass nach Putin alles besser wird.
Ulrich Kühn: Es wird irgendwann eine neue Generation russischer Führer geben, klar, aber es ist nicht ausgemacht, dass sie konzilianter sein wird als Putin. Mögliche Nachfolger könnten noch viel nationalistischer sein. Wir, die Nato und die EU, müssen uns darauf einstellen, dass Russland für Europa noch sehr lange ein massives Sicherheitsproblem darstellen wird.
Dann ist die Aufrüstung, die jetzt in Gang gesetzt wird, für lange Zeit alternativlos?
Ulrich Kühn: Es ist aus meiner Sicht alternativlos und nachvollziehbar, dass Länder wie Polen und die baltischen Staaten aufgrund ihrer historischen Erfahrungen mit Russland mehr militärische Unterstützung von der Nato fordern und bekommen. Doch der Westen darf jetzt nicht ziellos aufrüsten. Er muss vermeiden, dass es zu Missverständnissen auf russischer Seite und einer ungewollten Eskalation kommt. Es muss geklärt werden, wie viel wir aufrüsten wollen und mit welchem Ziel. Wenn die Nato zum Beispiel Verbände in der Größenordnung von Divisionen an die Ostflanke stellen würde, entsteht irgendwann eine Truppenstärke, die fähig wäre, einen Krieg auf russisches Territorium zu tragen. Damit entstünde ein klassisches Sicherheitsdilemma: Russland fühlt sich bedroht und rüstet weiter auf - und so geht das dann hin und her. Mehr Sicherheit erreichen wir so nicht.
Gegen die russische Bedrohung in Europa setzt das Bündnis auf Aufrüstung und Abschreckung. Der Krieg in der Ukraine hat zu unerwartet neuer Geschlossenheit geführt.
Die Nato-Expertin Stefanie Babst warnt vor den Folgen des militärischen Nichteingreifens in der Ukraine und einer zunehmenden Kriegsmüdigkeit.
Vor 40 Jahren, im Januar 1982 veröffentlichte die DDR-Friedensbewegung den Appell "Frieden schaffen ohne Waffen". Heute klingen die Antworten auf den Ukraine-Krieg eher nach: Frieden schaffen nur mit Waffen. Haben Dialog und Diplomatie denn gar keine Chance?
Ulrich Kühn: "Frieden schaffen ohne Waffen" ist aus meiner Sicht eine sehr verkürzte Sichtweise, auf deren alleiniger Basis wir keine Konzepte vorantreiben sollten. Denn natürlich können auch Waffen den Frieden sichern. Politiker wie Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger haben aber richtigerweise gesagt: Nur weil die Diplomatie im Falle Russlands gescheitert ist und vielleicht auch wiederholt scheitert, ist sie nicht falsch. Sie muss immer Alternativen zum Kriegsgeschehen aufzeigen.
Diplomatie setzt aber auch voraus, dass die Verhandlungspartner zu Gesprächen und Kompromissen bereit sind. Putin signalisiert nichts dergleichen.
Ulrich Kühn: Im Moment scheint es tatsächlich, als würde er weiterhin seine Maximalforderungen vorantreiben. Trotzdem ist es wichtig, seine Haltung immer wieder zu testen, wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz es in ihren Telefonaten tun. Voraussetzung für einen Dialog ist aber auch, dass der Westen seine Haltung klärt. Welche Ergebnisse dieses Krieges sind für uns akzeptabel? Was bedeutet der Satz "Die Ukraine muss gewinnen" konkret? Wie kann ein Zustand geschaffen werden, in dem Waffen nicht mehr zwangsläufig nötig sind? Welche politischen Faktoren könnten zu einem Waffenstillstandsabkommen führen? Auf diese Fragen müssen auch wir im Westen dringend Antworten finden.
Die Bundesregierung bekennt sich einerseits zur nuklearen Abrüstung, andererseits muss sie auf den russischen Expansionsdrang, Bündnisverpflichtungen und eine Bevölkerungsmehrheit reagieren, die angesichts der russischen Aggression mehr Aufrüstung befürwortet. Wie soll sie dieses Dilemma lösen?
Ulrich Kühn: Das ist ein schwieriger Spagat. Aber es ist extrem wichtig, dass es Staaten wie Deutschland gibt, die als ehrlicher Mittler zwischen den unterschiedlichen Positionen auftreten können. Mit Blick auf die Probleme, vor denen wir global stehen - Klimawandel, Pandemie, Migration - darf die Weltgemeinschaft ihre Zeit und Ressourcen nicht ausschließlich für Blockkonfrontationen und Aufrüstungsprogramme aufwenden. Wir müssen uns diesen Themen dringend zuwenden. Noch mehr als Waffen brauchen wir daher in naher Zukunft wieder Austausch, Dialog und Diplomatie.