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Türkei : Wahlkampf mit Überraschungen

Präsident Erdogan steht vor den Wahlen Mitte Mai vor ungewohnten Problemen. Die Opposition ist geeint wie nie zuvor und hat die Chance, die Ära Erdogan zu beenden.

02.05.2023
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4 Min

Nichts ist in der Türkei vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai so, wie es das Land seit 20 Jahren gewohnt ist. Präsident Recep Tayyip Erdogan, der die Republik geprägt hat wie nur Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk vor ihm, und der seit 2002 fast alle Wahlen gewonnen hat, liegt in den Umfragen zurück und ist gesundheitlich angeschlagen. Die Opposition ist geeint wie nie zuvor und hat die Chance, die Ära Erdogan zu beenden. Im Falle eines Machtwechsels in Ankara dürften sich die Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen grundlegend verändern.

Foto: picture-alliance/AA/Ozgun Tiran

Fünf Kandidaten fordern Erdogan heraus. Die größten Chancen, den langjährigen Staatschef zu beerben, hat der Chef der linksnationalen CHP, Kemal Kilicdaroglu.

Rund 64 Millionen Türken wählen Mitte Mai den Staatspräsidenten und die 600 Abgeordneten des Parlaments in Ankara. Erreicht kein Präsidentschaftskandidat im ersten Anlauf mehr als 50 Prozent der Stimmen, treten die beiden Bestplatzierten am 28. Mai zu einer Stichwahl an.

Insgesamt treten vier Präsidentschaftskandidaten und 64 Parteien an. Sie können sicher sein, dass die meisten Türken zur Urne gehen werden: Die Wahlbeteiligung, die schon 2018 bei 85 Prozent lag, könnte diesmal 90 Prozent erreichen.

Unerwarteter Umfrage-Umschwung

Bis Anfang Februar sah alles nach einem Durchmarsch für Erdogan und seine Partei AKP sowie die mit ihr verbündete rechtsnationale MHP aus. Trotz großer Unzufriedenheit der Wähler mit der schlechten Wirtschaftslage konnte der Präsident seine Umfragewerte verbessern, indem er den staatlichen Mindestlohn anhob und andere Wahlgeschenke verteilte, etwa einen frühen Renteneintritt.

Dann änderte sich die Lage jedoch aus zwei Gründen schlagartig. Die Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar mit 50.000 Toten, hunderttausenden zerstörten Wohngebäuden und Millionen Obdachlosen offenbarte die Nachteile von Erdogans stark zentralisiertem Präsidialsystem, in dem fast nichts ohne Befehl von oben geschieht. Die Hilfe für die Opfer lief schleppend und ungleichmäßig an.

Missstände bei der Postenvergabe 

Bei Institutionen, die von der Regierung für die Postenvergabe an Gefolgsleute benutzt worden waren, zeigten sich Missstände: So musste der Rote Halbmond einräumen, Zelte für Obdachlose an eine private Hilfsorganisation verkauft zu haben, statt sie gratis zu verteilen. Experten warfen der Regierung eine Mitschuld an den Zerstörungen im Erdbebengebiet vor, weil Ankara vor fünf Jahren mit einer Bauamnestie viele baufällige oder nachträglich veränderte Gebäude für bewohnbar erklärt hatte. Statt über Errungenschaften seiner Regierung zu sprechen, musste Erdogan den Erdbebeneinsatz seines Kabinetts gegen Kritik verteidigen.

Geschickter Wahlkampf - geeinte Opposition

Der zweite Faktor, der Erdogan zurückwarf, war die überraschende Einigkeit der Opposition. Ein Bündnis aus sechs Parteien unter Führung der linksnationalen CHP und der konservativen IYI-Partei drohte noch Anfang März am Streit um eine Kandidaten zu zerbrechen. Doch dann fing sich die Allianz und rief CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu zu ihrem gemeinsamen Kandidaten aus. Wenig später erhielt Kilicdaroglu einen weiteren wichtigen Schub, als die pro-kurdische Partei HDP auf einen eigenen Bewerber verzichtete und sich ebenfalls hinter ihn stellte. Rein rechnerisch ergibt sich damit eine Mehrheit für die Erdogan-Gegner.

Der 74-jährige Kilicdaroglu erwies sich zudem als geschickter Wahlkämpfer, der mit Bescheidenheit und Reformversprechen um Wähler wirbt. Diese Dynamik erwischte das Erdogan-Lager, das mit einem "Weiter so" antritt, auf dem falschen Fuß.

Die Entscheidung könnte in der Stichwahl fallen

Der Präsident versucht, die Türken mit der Präsentation technologischer, militärischer und energiepolitischer Projekte zu überzeugen. Das erste türkische E-Auto, ein neues Flaggschiff für die Kriegsmarine und das erste türkische Atomkraftwerk gehören dazu. Doch bisher schaffen es Erdogan und die AKP nicht, die wahlentscheidenden Wechselwähler zu beeindrucken. Bei der Parlamentswahl könnten AKP und MHP ihre Mehrheit in der Volksvertretung laut den Umfragen verlieren. Beim Rennen um die Präsidentschaft liegt Erdogan zwei Wochen vor der Wahl in den meisten Befragungen hinter Kilicdaroglu. Die Entscheidung könnte in der Stichwahl fallen.


„Eine neue türkische Regierung unter Kilicdaroglu wird es dem Westen nicht immer leicht machen. “
Türkei-Experte Nicholas Danforth

Eine Mageninfektion gut zwei Wochen vor der Wahl warf Erdogan noch weiter zurück. Er fiel mehrere Tage aus und konnte nur per Video an Veranstaltungen teilnehmen. Weil Erdogan mit seiner Beliebtheit beim AKP-Fußvolk, seinem Charisma und seinem Talent als Redner für den Regierungswahlkampf unverzichtbar ist, riss sein Fehlen eine große Lücke. Der gut vernetzte Journalist Murat Yetkin berichtete in seinem Blog "YetkinReport", dass ausländische Diplomaten, die lange fest mit Erdogans Sieg gerechnet hätten, in Berichten an ihre Ministerien inzwischen auf die Möglichkeit einer Niederlage des Präsidenten hinwiesen.

Sollte Kilicdaroglu siegen, würde sich in der Türkei vieles ändern. Der Oppositionskandidat will Erdogans Präsidialsystem abschaffen, zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren und die Beziehungen der Türkei zum Westen neu beleben. Politische und wirtschaftliche Reformen sollen die türkische EU-Bewerbung, die seit Jahren nur noch auf dem Papier existiert, wieder energisch vorantreiben. Kilicdaroglu will mit Europa auch über den Flüchtlingsdeal von 2016 reden, den er nicht unverändert übernehmen will.

Türkische Wähler in Deutschland

Wahlberechtigte in Deutschland: Rund 1,5 Millionen Türken in Deutschland können an den türkischen Wahlen teilnehmen. In der Vergangenheit wählten sie mehrheitlich Präsident Erdogan und seine AKP-Partei.

Ablauf der Wahl: Abgestimmt werden kann bis zum 9. Mai in den türkischen Generalkonsulaten. Viele Wahllokale wurden von der Bundesregierung nicht genehmigt.



Eine neue türkische Regierung unter Kilicdaroglu werde es dem Westen nicht immer leicht machen, meint der Türkei-Experte Nicholas Danforth von der griechischen Denkfabrik Eliamep. "Doch die Veränderung wäre trotzdem tiefgreifend", sagte er in einer Online-Konferenz des US-Instituts Brookings. So werde eine neue Regierung in Ankara zusätzliche Spannungen im Verhältnis zu Griechenland vermeiden und das Veto gegen den Nato-Beitritt Schwedens aufheben.

Susanne Güsten ist freie Korrespondentin in der Türkei.