Krieg in der Ukraine : "Was wollen sie von uns? Ich verstehe es nicht."
Ein Jahr nach der russischen Invasion schmieden viele Menschen in der Ukraine keine Pläne mehr. Was ihnen bleibt, sind Gräber, dunkle Städte und Erinnerungen.
Radu tritt aufs Gas und bremst dann abrupt ab. Aus der linken Lasterspur ist plötzlich ein weißer ukrainischer Pkw vorgeprescht. Radu, unser Fahrer, flucht, denn es gibt kaum ein Ausweichen, auch rechts stauen sich die Laster. Wir sind in Giurgiulesti, am südlichsten Punkt der Republik Moldau, am Ufer der Donau. Dort befindet sich der einzige Hafen des Landes, der seit dem russischen Überfall auf das Nachbarland auch für die Ukraine wichtig geworden ist.
Der Export von Gütern über den kleinen Hafen von Giurgiulesti ist sicherer als der über Odessa und das Schwarze Meer, in dem es vor russischen Kriegsschiffen wimmelt. Vor allem Getreidelaster säumen deshalb in peitschendem Schneesturm den knapp anderthalb Kilometer langen Abschnitt der Europastraße E-87 zwischen der rumänisch-moldauischen und moldauisch-ukrainischen Grenze und machen den wenigen Autos ein Durchkommen kaum möglich.
Von links oben nach rechts unten: Kolonne mit Getreidelastwagen, das Grab eines 33-jährigen Soldaten in Reni, Alita Danukalowa mit ihrem Mann Grigori im rumänischen Flüchtlingszentrum, Kriegsveteran Rostislaw mit einem Handyvideo.
Die Grenzschützer am ukrainischen Grenzposten von Giurgiulesti sind mit älteren, langen Gewehren bewaffnet. "Vergesst nicht", warnt uns einer halb mürrisch, halb lachend. "Die Polizeistunden beginnt um 23 Uhr und dauert bis 5 Uhr morgens, da müsst ihr drinnen blieben, und ihr dürft bloß nichts fotografieren, sonst kriegt ihr es mit dem Geheimdienst zu tun." Dann geht es nur noch zu Fuß weiter, denn der Moldauer Radu will auf keinen Fall mit uns in ein Kriegsland fahren.
Viele frische Gräber auf dem Heldenfriedhof
Im Bistro an der Grenze essen Lastwagenfahrer schweigend Kohlsalat und Fleisch. Sonnige Südseeinseln locken auf einer Fototapete. Die Bedienung kommt aus dem nahen ukrainischen Städtchen Reni. "Drei blutjunge Burschen liegen an unserer Heldenallee, der vierte wurde an der Seite seines Großvaters begraben", erzählt sie nüchtern. Die "Heldenallee" liegt unübersehbar gleich am Anfang des weiten Gräberfeldes auf dem Friedhof des 18.000-Einwohnerstädtchens. Fünf ukrainische Flaggen wehen allein am frisch aufgeschütteten Grab von Jewgen Bugajnow, dem bisher letzten Kriegstoten der Grenzstadt. 33 Jahre alt ist der ukrainische Soldat geworden. Bugajnow wurde im Oktober getötet, neben ihm liegt der erst 19-jährige Stanislaw Topola, der bereits im April gefallen ist. Ganz Reni kennt die beiden Männer, doch mit Fremden will man nicht über sie sprechen. "Das sind Helden", sagt eine junge Passantin.
Im Städtchen geht alles dem Anschein nach seinen gewohnten Gang. Schulkinder schlagen Eiszapfen vom Rathausvordach und fechten damit am Straßenrand. Die Erwachsenen machen Einkäufe und andere Besorgungen. "Die Inflation ist unglaublich hoch, ohne die Unterstützung meiner Tochter aus Atlanta in den USA könnte ich nicht überleben", berichtet allerdings eine Rentnerin. Die Kinder in der gut 200 Kilometer entfernten Gebietshauptstadt Odessa hätten gerade wieder schulfrei bekommen, wegen Strommangels. "Bei uns war es auch so, man weiß nie, wann es Elektrizität gibt und wann nicht."
In Izmajl bleibt es seit dem Krieg dunkel
Der Kleinbus von Reni ins Bezirkszentrum Izmajl muss bei der Stadtausfahrt einen Armeeposten aus Beton und Sandsäcken passieren. Die Passagiere werden nicht kontrolliert. Als der Bus endlich durch mehrere Dörfer zuckelnd in Izmajl eintrifft, ist es dort längst stockdunkel. Hell erleuchtet sind nur ein paar Geschäfte, selten brennt eine Straßenlaterne.
Drei Rentner mit großen Plastik-Kanistern haben sich um einen Trinkwasserspender versammelt. "Früher war es hier auch spät abends noch taghell, doch seit dem Krieg haben die Behörden den Strom abgeschaltet", sagt einer der Männer. Er klagt nicht über die gezielten russischen Angriffe auf die gesamte Energie-Infrastruktur der Ukraine seit Anfang des Herbstes, denen erst am Wochenende wieder eine wichtige Umspannstation bei Odessa zum Opfer gefallen ist. Bis auf einen gezielten russischen Raketenschlag auf eine Radar-Anlage bei Izmajl in den ersten Kriegstagen ist es im äußersten Südwesten der Ukraine bisher ruhig geblieben. Hier ist die Bar "Filin" an der Hauptstraße der 80.000-Einwohnerstadt gelegen, heute gut gefüllt mit Jugendlichen, die es sich trotz des Krieges noch leisten können. Es sind vor allem junge Frauen und ein paar Männer ab Fünfzig - und finanziell besser aufgestellte Zuzügler aus anderen Teilen der Ukraine. Die Binnenflüchtlinge haben die Mietpreise in Izmajl dem Vernehmen nach um hundert Prozent ansteigen lassen.
Um 20 Uhr leert sich das Lokal schlagartig, denn von nun an darf kein Alkohol mehr verkauft werden. "Natürlich habe ich Angst vor dem Krieg und vor meiner Einberufung, ich will gar nicht den Helden spielen", sagt der Barman, ein 22-jähriger Einheimischer, der wie viele hier weder fotografiert werden noch seinen Namen in einer Zeitung sehen will. Er habe Angst, denn die Sterblichkeit an der Front sei viel höher als das Verteidigungsministerium im fernen Kiew zugäbe, meint der junge Ukrainer. Er wolle sich aber auch nicht verstecken, was komme, komme eben. Dann erkundigt er sich über Möglichkeiten im Ausland, an westlichen Waffen trainiert zu werden. "Jetzt wo die Ukraine Leopard-2 Panzer, selbst aus Deutschland bekommt, müssen doch Soldaten daran geschult werden", überlegt er laut. Das würde ihm zusagen - nach Deutschland oder Polen zum Panzerfahrer-Training reisen.
"Nur ein toter Russe ist ein guter Russe"
Rostislaw, ein Getreidehändler aus Browary bei Kiew, hat den Krieg schon selbst erlebt. Am 24. Februar, dem Tag des russischen Angriffs, habe er eigentlich mit seiner Frau nach Ägypten in den All-Inclusive-Urlaub fliegen wollen, erzählt der Mittvierziger in einem Café. Doch sei er passionierter Jäger und habe daher Waffen Zuhause. "Ich habe mich sofort freiwillig gemeldet." Dann zeigt er Videoaufnahmen eines mit Leichen übersäten Feldes bei Browary. "So haben wir die Russen fertig gemacht. Wir haben Browary verteidigt, sie waren schon zwei Kilometer vor der Stadt." Rostislaw, der bei Izjum im Donbas schwer verwundet wurde, will nicht mehr Russisch, sondern nur noch Ukrainisch sprechen, obwohl er wie die meisten Ukrainer beides versteht. "Nur ein toter Russe ist ein guter Russe", sagt er. Und fragt dann: "Was wollen sie von uns? Ich verstehe es nicht." Der Kriegsveteran schüttelt den Kopf. "Deshalb müssen wir Ukrainer siegen, und wir werden es tun."
Gratis-Suppe an der Grenze
Die Fahrt zurück nach Rumänien folgt der zweitwichtigsten südukrainischen Flüchtlingsstrecke. Sie führt ins Dorf Orliwka und von dort über die einzige Fährverbindung im Donau-Delta nach Rumänien. Die Taxifahrt dauert länger als geplant, denn auch hier versperren Getreidelaster die engen Straßen über Dämme und Deiche des Donaudeltas. Dafür dauert die Fahrt über die eisig-bräunliche Donau nur zehn Minuten. Am rumänischen Grenzposten Isaccea warten diesmal die Mitarbeiterinnen der Uno-Agentur IOM, der Internationalen Organisation für Migration, vergebens auf ukrainische Flüchtlingsfrauen. Nur eine Rentnerin über 70 im bunten Kopftuch ist nach Rumänien gekommen, doch will sie nur Verwandte besuchen. Vier ukrainische Autofahrer machen kurz beim Flüchtlingszelt gleich hinter der Grenze halt, um eine warme Gratis-Suppe zu essen. Auch sie brauchen keine Hilfe.
"Das ist nicht immer so, jeder Tag bringt neue Überraschungen, das macht unsere Planung so schwierig hier", sagt Denis Stamatescu, der rumänische Chef der Essenszelte. Der Restaurantbesitzer aus dem rund 160 Kilometer entfernten Constanta ist seit dem dritten Kriegstag hier und hat seither mit seinem Team rund 900.000 Essensrationen an ukrainische Flüchtlinge verteilt, wie er vorrechnet. "In den ersten Tagen kamen 800 Fußgänger mit der Fähre an, und diese fuhr nicht sechsmal täglich wie heute, sondern den ganzen Tag hin und zurück", erzählt Stamatescu. "Heute waren nur fünf Flüchtlinge hier in Isaccea, morgen könnten es 50 oder gar 500 sein.". Niemand wisse, was die Zukunft bringe. "Das hängt leider vor allem vom Kreml ab."
Hoffnung auf Rückkehr
Alita Danukalowa will nichts vom Kreml abhängig machen. Die gebürtige Russin ist erst vor gut einem Monat mit Ehemann Grigori, der Enkelin Anna und ihren kleinen Urenkeln Artjom und Taissa aus Izmajl ins rund 80 Kilometer entfernte rumänische Gebietszentrum Galati geflohen, doch nun hat sie Heimweh. "Wir kehren bald zurück, ich kann nur nicht planen, wann genau. Sobald es sicher ist, eben", sagt die 76-jährige. Sie hat mit ihrer Familie in einem von einer amerikanischen Freikirche geleiteten Flüchtlingszentrum Unterschlupf gefunden. "Wieso ich erst so spät geflohen bin? Ich weiß es nicht. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst, dass es bei uns in Izmaij so wie in Odessa kommt, dass die Russen immer mehr Raketen auf unsere Stadt abfeuern", erklärt Alita, die nach dem Zerfall der UdSSR 1991 die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen hat. "Die UdSSR, das waren noch gute Zeiten", sagt ihr Mann Grigori. Alita widerspricht. "Rede keinen Quatsch, wir wollen doch einfach nur Frieden."
Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent .