Protest gegen Justizreform : Aufstand der Waffenbrüder in Israel
Der Widerstand der Armee-Reservisten gegen die umstrittene Justizreform in Israel trifft den Staat bis ins Mark.
Ein verlassener Parkplatz in Tel Aviv im Morgengrauen. Unter dem Kommando von Ron Scherf, einem früheren Oberstleutnant einer israelischen Eliteeinheit, ziehen hunderte Reservisten in eine Protestaktion, die geplant ist wie ein Armeeeinsatz.
Bis zum letzten Moment weiß nur eine Handvoll Eingeweihte, wohin es geht. Die Polizei könnte die Aktion stoppen. "Wir marschieren in die Kleinstadt Bnei Brak", kündigt Scherf an. Den dort lebenden Ultraorthodoxen wollen die Männer ihren Job abtreten: "Ihr habt alle diese Diktatur gewählt, dann verteidigt sie auch." Die Diktatur - in den Augen der Reservisten ist das die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu mit ihren antidemokratischen Gesetzen.
Aus Sorge um die Demokratie drohen Reservisten, mit Dienstverweigerung: Angesichts der jüngsten Eskalation im Nahostkonflikt ist das eine ernstzunehmende Warnung.
In der ultraorthodoxen Hochburg Bnei Brak errichten die Reservisten unter lautem Protest der religiösen Beisteher ein symbolisches Rekrutierungszentrum. Scherf kann sich nur per Megaphon Gehör verschaffen: "Mit der Macht, die Ihr jetzt in der Regierung habt, kommt die Verantwortung, diesen Staat zu verteidigen!"
Studenten der Torah- und Talmudschulen sind vom Wehrdienst ausgenommen
Auf Anordnung ihrer Rabbiner haben die ultraorthodoxen Juden des Landes geschlossen für Parteien der Koalition gestimmt. Mit 13 Prozent der Bevölkerung sind sie eine politische Macht, die keine rechte Regierung ignorieren kann. Nur ein Bruchteil von ihnen geht in die Armee.
Die Studierenden der Torah- und Talmudschulen sind vom Wehrdienst ausgenommen. Ein heißes Eisen, das in allen Koalitionsverhandlungen als Bedingung der ultraorthodoxen Parteien auf den Tisch kommt: Während die säkularen Parteien gleiche Rechte und Pflichten für alle Staatsbürger fordern, pochen die Ultraorthodoxen auf Befreiung von der Wehrpflicht.
Hirshman: Talmudstudenten sehen sich als Armee Gottes
Im Jerusalemer Haredi Institute for Public Affairs erklärt Meir Hirshman warum: Talmudstudenten sähen sich als Armee Gottes, die das Heilige Land spirituell verteidigt: "Wenn niemand die Torah lernen würde, hätte die jüdische Welt kein Existenzrecht, nicht hier und nicht anderswo."
Doch Hirshman weiß auch: Weigerten sich die Reservisten, geschlossen zum Dienst anzutreten, hätte der Staat ein unlösbares Sicherheitsproblem. Der Reservedienst gehört in Israel zum nationalen Ethos und ist integraler Bestandteil der Armee. An die 500.000 Reservisten sind registriert - das sind dreimal so viel wie aktive Soldaten. Jeder männliche Israeli unter 40 Jahren muss 36 Tage im Jahr Reservedienst leisten.
In der Protestbewegung, die seit fünf Monaten das Land aufrüttelt, sind die Reservisten inzwischen ein wichtiger Faktor. Im Zentrum des Protests steht das, was die Regierung als Justizreform und ihre Gegner als Staatsstreich bezeichnen.
Kritiker sagen, Netanjahu wolle das Justizsystem radikal verändern
Um eine mögliche Gefängnisstrafe wegen Korruption zu verhindern und die Macht der Siedler und Ultraorthodoxen auszubauen, so werfen ihm Kritiker vor, wolle Netanjahu mit seiner Koalition das Justizsystem radikal verändern und vor allem die Macht des Obersten Gerichtshofs einschränken. Da Israel keine Verfassung hat, die die Bürger vor politischer Willkür schützt, wäre seine Entmachtung das Ende der Gewaltenteilung - und de facto der Demokratie.
Auch das Ethos der Reservisten stehe auf dem Spiel. "Wir haben einen ungeschriebenen Vertrag mit dem Staat, und den schreibt die Regierung in diesen Tagen neu", sagt Ron Scherf. "Dieser Vertrag besagt, dass ich für diesen Staat kämpfe, solange dieser Staat liberal und demokratisch bleibt." In einer Diktatur werde es weder Volksarmee noch Reservisten geben.
Ex-Generäle und Sicherheitsexperten warnen vor einem ethischen Dilemma
Ex-Generäle, Geheimdienste und auch Sicherheitsexperten wie Pnina Sharvit Baruch vom Institute for National Security Studies warnen vor einem ethischen Dilemma für die Reservisten. "Ihre Sorge ist, dass sie von dieser Regierung in Einsätze geschickt werden könnten, die weder dem Kriegsrecht noch den moralischen Grundsätzen entsprechen."
In Israel ist das kein abstraktes militärisches Ethos, sondern Einsatzrealität. Die Palästinensische Autonomiebehörde wirft Israel regelmäßig Kriegsverbrechen vor - im Siedlungsbau und auf dem Schlachtfeld. Von Anklagen vor internationalen Gerichtshöfen wurde bisher nur abgesehen, weil Israel als Demokratie mit stabiler Gewaltenteilung gilt, in der militärische Übergriffe untersucht und verurteilt werden.
"In dem Moment, in dem dies wegfällt", sagt Pnina Sharvit Baruch, "wird es unmöglich, sich auf unsere eigenen Untersuchungen und unser Justizsystem zu verlassen." Die Wahrscheinlichkeit internationaler Untersuchungen wachse - und damit die Gefahr für Sicherheitskräfte, im Ausland verhaftet oder angeklagt zu werden.
Wehrdienstverweigerung, bislang nur ein Randphänomen, ist seit Beginn des Widerstands gegen Netanjahus Frontalangriff auf die Justiz selbst unter den patriotischen Reservisten kein Tabuthema mehr. Nicht nur die der Bodentruppen demonstrieren. Auch die Reservisten der Luftwaffe kündigten an, unter einer Autokratie den Dienst zu verweigern.
So etwa Amir Yatziv: Mitten in Tel Aviv, auf einem Platz, errichteten er und seine Mitstreiter Anfang April einen aus Holz und Stoff gebauten Kampfjet. "Die Skulptur war ein Flugzeug, das in die Erde kracht", erklärt Yatziv. "Eine Metapher unserer Demokratie."
Drohung der Piloten rüttelt an Netanjahus Thron
Kaum stand die Skulptur, wurde sie von radikalen Rechten abgerissen. Mit den Splittern des zertrümmerten Jets füllten die Reservisten am Tag darauf den Metallrahmen einer ausgestreckten Faust, dem Symbol der Protestbewegung, und bauten diese am gleichen Ort auf. Ein Dorn im Auge der Regierung, die sich von den Massendemonstrationen lange unbeeindruckt zeigte.
Doch die Drohung der Piloten rüttelt an Netanjahus Thron. Im öffentlichen Diskus gebe es zwar "Raum für Proteste und Meinungsverschiedenheiten, aber keinen für Platz für Wehrdienstverweigerung", machte dieser klar.
Halbgottähnlicher Status der Kampfpiloten
Kommunikationsminister Shlomo Karhif forderte, die Piloten sollten "zur Hölle gehen". Ein Fauxpas, der in Israel, wo Kampfpiloten einen halbgottartigen Heldenstatus haben, für einen Aufschrei sorgte. In der Protestbewegung, die die gesamte Gesellschaft von Hightech-Unternehmern über Künstler bis zu ehemaligen Geheimdienstchefs umfasst, sind die Reservisten, die unter dem Namen "Waffenbrüder" auftreten, begehrte Redner.
Ron Scherf wurde nach einem kämpferischen Auftritt gar zu einer Gallionsfigur des Reservistenprotests. Eine Rolle, die der Familienvater nie angestrebt hat. "Das Einzige, was wir wollen, ist. in einer Demokratie zu leben, ein freies Volk in unserem Land zu sein." So stehe es in der Nationalhymne.
Lichterkette als Mahnung vor dem Verteidigungsministerium
Die "Hatikva" wird auf jeder Kundgebung gesungen, auch als sich an einem Aprilsamstag der "Parents Circle" trifft, eine Organisation von Familien, die ihre Liebsten in Kriegen verloren haben. Avinoam Shiran bereitet vor dem Verteidigungsministerium eine Lichterkette vor. Sein Sohn kam im Libanonkrieg 2006 ums Leben. Heute fragt er sich, wofür. "Ich möchte einfach nicht, dass Daniel sein Leben für einen Staat geopfert hat, in dem meine anderen Kinder nicht mehr leben wollen."
Tausende Lichter erinnern an diesem Abend an die Gefallenen. 75 Jahre nach der Staatsgründung warnen sowohl Hinterbliebene als auch die Kämpfer von heute: Fällt Israels Demokratie, fällt auch das Ethos von Israels Armee.
Der Autor ist Journalist und Filmemacher. Er lebt in Israel.