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Großbritannien erneut im Chaos : Kontrollverlust im Königreich

Nach nur 45 Tagen ist die britische Regierungschefin Liz Truss zurückgetreten. Boris Johnson bringt sich wieder in Stellung. Sein möglicher Konkurrent: Rishi Sunak.

24.10.2022
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4 Min

Als dritte Premierministerin in der britischen Geschichte war Liz Truss am 6. September von Queen Elizabeth II. ernannt worden. Doch ihre Amtszeit währte nur 45 Tage. Vergangenen Donnerstag musste die Regierungschefin ihren Rücktritt erklären. Die Noch-Vorsitzende der Tory-Partei steht stellvertretend für die Malaise der britischen Konservativen, die seit dem Brexit-Referendum vor sechs Jahren von einer Krise in die nächste taumeln und nun ihren fünften Regierungschef bekommen.

Foto: picture-alliance/EPA/Andy Rain

So kurz wie sie war im modernen Vereinigten Königreich noch kein Regierungschef im Amt: Nur 45 Tage saß Liz Truss in der Downing Street 10, bevor ihr ein Steuerplan-Fiasko mit bösen Folgen für die Finanzmärkte zum Verhängnis wurde.

Letztlich geht der tiefe Fall von Liz Truss auf einen ideologischen Streit innerhalb ihrer Partei zurück. Ist das Brexit-Votum der Beginn einer neuen Ära, in dem das Vereinigte Königreich eine neoliberale Wirtschaftspolitik macht, die allein auf die Kraft des freien Marktes setzt und staatliche Intervention verbannt? Diese Überzeugung des rechten Tory-Flügels, der Truss Anfang September ins Amt gebracht hatte, setzte Truss vor rund vier Wochen mit ihrem "Mini-Budget" um. Sie hatte im Wahlkampf versprochen, "als Zerstörerin" der "ökonomischen Orthodoxie" ihres eigenen Schatzkanzleramts ein Ende zu setzen. Die Folgen ihres eilig verfassten und keine Finanzspielräume auslotenden Programms waren Marktturbulenzen und ein Verfall des Pfunds, wie ihn das Land seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte.

Konservative verzeichnen miserable Umfragewerte

Statt "die Kontrolle zurückzubekommen", wie es der Brexit-Slogan versprach, stecken die Briten nun erneut im Chaos. Wie geht es weiter in London? Die Opposition, allen voran die Labour-Partei, fordert unverzüglich Neuwahlen. Sollten die Tories intern den neuen Premier bestimmen, wäre es seit 2016 die vierte Regierungsbildung ohne Mandat der Wähler. Doch eine Neuwahl können nur die Konservativen selbst initiieren, was angesichts der miserablen Umfragen, welche Labour bis zu 30 Punkte Vorsprung geben, politischem Selbstmord gleichkäme.

Der Plan der Tories ist es daher, spätestens am Freitag dieser Woche einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende zu küren, der oder die dann automatisch das Amt des Premiers übernimmt. Am Montag bereits müssen die Bewerber mindestens hundert Stimmen aus der 357 Mitglieder zählenden Fraktion versammeln, um in den Wettbewerb gehen zu können.

Maximal drei Kandidaten können antreten 

Was bedeutet, dass maximal drei Kandidaten antreten können - von denen einer bereits riesige Aufmerksamkeit auf sich zieht: Boris Johnson. In der Dominikanischen Republik, wo er bereits den dritten Urlaub seit seinem Rücktritt Anfang Juli verbringt, soll der Ex-Premier nach britischen Medienberichten fleißig Geldgeber und parlamentarische Unterstützer gesammelt haben.

Dass Johnson seine knapp dreijährige Amtszeit keineswegs als Schlusskapitel in der höchsten Politik versteht, ließ er die Welt bei seinem Abgang wissen. "Hasta la vista, Baby!", zitierte Johnson bei seinem letzten Unterhaus-Auftritt Mitte Juli den Terminator, der bekanntermaßen für eine neue Folge wiederaufersteht. Als Johnson sich am frühen Morgen des 6. September vor seiner Abschiedsreise zur Queen ans Mikrofon stellte, hatte er sein Narrativ zur Vollendung gebracht.

Johnson glänzt als Star seiner Partei

Dank ihm habe das Vereinigte Königreich nicht nur den Brexit "abgehakt", sondern auch das schnellste Corona-Impfprogramm unter allen vergleichbaren Ländern hingelegt sowie den zügigsten Ausstieg aus dem Lockdown. Ohnehin seien nie so viele Menschen in Arbeit gewesen und nebenbei zählten die Briten zu den mutigsten Unterstützern der Ukraine im Kampf gegen Wladimir Putin. Wenig überraschend, dass Johnson für die vielen negativen Kennzahlen der britischen Wirtschaft keinen Kommentar übrig hatte, etwa die riesige Staatsverschuldung bei Nullwachstum. Wie sehr dies ins Gewicht fällt, das hat die Reaktion der Märkte auf Truss' Steuersenkungspläne gerade erst deutlich gemacht.

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Bei den Mitgliedern ist Johnson trotzdem weiter ein Star. Laut einer aktuellen Umfrage wollen ihn 67 Prozent zurück als Premier, zumal sie ihn als bestes Zugpferd für die nächste Parlamentswahl betrachten. Die Fraktion aber ist tief gespalten. Die Erinnerungen an die vielen Skandale während Johnsons Amtszeit, von denen "Partygate" nur einer war, sind frisch. Im November beginnt eine fraktionsübergreifende Untersuchung, ob der Premier das Parlament in Hinsicht auf die während der Corona-Lockdowns illegal stattgefundenen Feste in seinem Amtssitz belogen hat. Noch dazu hatten Dutzende führende Tory-Köpfe wie Rishi Sunak oder Sajid Javid mit ihren Rücktritten überhaupt den Sturz des 58-Jährigen Anfang Juli ausgelöst.

Johnsons Vorgängerin Theresa May rief die Partei bereits zur Einigkeit auf. Die Abgeordneten müssten "bereit zum Kompromiss sein. Es ist unsere Pflicht, eine vernünftige, kompetente Regierung in dieser schwierigen Zeit für unser Land zu stellen", schrieb May auf Twitter.

Auch andere von Mays Parteifreunden warnten, die Tories stünden vor der Existenzfrage, wenn sich die Reihen nun nicht schnell hinter einem moderaten Kandidaten schlössen.

Duell zwischen Johnson und Sunak zeichnet sich ab

Als wahrscheinlicher Kompromisskandidat gilt in London Ex-Schatzkanzler Rishi Sunak. Er hatte in der ersten Runde des Nachfolgewettbewerbs für Boris Johnson die meisten Stimmen seiner Fraktionskollegen bekommen, konnte aber im Duell mit Liz Truss die Mitglieder der Konservativen Partei nicht auf seine Seite ziehen.

Dass er in dem bitteren Sommerwahlkampf wiederholt Truss' Wirtschaftspläne als verantwortungslos verurteilt hatte, mag dem 42-jährigen Sunak nun zum Vorteil gereichen. Aber seine Chancen hängen letztlich wohl an einer Person: Boris Johnson. Der Ex-Premier hat seinem Kollegen angeblich nicht verziehen, dass dieser seinen Sturz maßgeblich auslöste. Kann Johnson selber nicht genug Stimmen auf sich vereinen, so wird in London vermutet, könnte er seine Unterstützer in der anstehenden Wahl gegen Sunak positionieren. 

Die Autorin ist Korrespondentin der "Welt" in London.