Irak : Kriegsangst in der Region
Nachdem türkische Truppen kurdische Stellungen im Norden angegriffen haben, wächst auch im Nachbarland Syrien die Sorge vor einer neuerlichen Großoffensive.
Die Turnschuhe der türkischen Marke Mekap sind zu einem Symbol für den kurdischen Widerstand gegen die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdogan geworden. Ende Juni trugen Teilnehmer eines Protestzugs ein riesiges Modell durch die Düsseldorfer Innenstadt. Rund 4.000 Demonstranten protestierten so für einen Stopp der türkischen Militäraktionen gegen die Kurden. Mit dabei war auch Michael Wilk, der mehrfach als Arzt in Nordsyrien war. Er sagte: "Während die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit auf den Krieg in der Ukraine gerichtet ist, fliegen türkische Drohnen täglich Angriffe auf Rojava, Shengal und den Nordirak." Eindringlich warnte er vor den Folgen eines erneuten türkischen Angriffskrieges in Nordsyrien.
Mitglieder der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee bereiten sich zur Zeit auf eine mögliche Operation gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vor.
Bereits seit April greift die Türkei Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak an. Ende Mai stellte Erdogan dann eine neue Offensive in Nordsyrien in Aussicht, wo die Kurden ein großes Gebiet kontrollieren.
Die Türkei geht dort schon länger gegen die Kurdenmiliz YPG vor. Nun will Erdogan eine 30 Kilometer breite Zone erobern, um "terroristische Bedrohungen" aus der Region zu bekämpfen. Hauptziel der Einsätze seien Bereiche, aus denen Angriffe auf die Türkei kämen. Nach einem erfolgreichen Einsatz gegen die YPG sollen syrische Flüchtlinge aus der Türkei in die Zone umgesiedelt werden.
Erdogan scheint Gunst der Stunde nutzen zu wollen
Den Plan hegt Erdogan schon seit geraumer Zeit, aber bisher hinderten ihn die Widerstände Russlands und der USA daran, sie zu verwirklichen - während die USA in der Region die Kurden im Kampf gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) unterstützen, will Russland Syrien wieder ganz unter die Kontrolle von Machthaber Baschar al-Assad bringen.
Nun sind beide Mächte mit der Ukraine beschäftigt, und Erdogan scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen. Er spielt die kurdische Karte schon seit Wochen aus: Erst Ende Juni stimmte er einem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nur unter der Bedingung zu, dass beide Staaten härter gegen PKK und YPG vorgehen und "Terrorverdächtige" an Ankara ausliefern. Gemeint sind PKK-Mitglieder sowie Angehörige der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan für den Putschversuch von 2016 verantwortlich macht.
Weit vorgedrungen
Im Norden des Irak unterhält die Türkei bereits seit 2016 mehrere Militärposten. Beschränkten die Truppen ihre Operationen bisher auf die Qandil-Berge im Nordosten des Landes, wo die PKK ihre Stellungen hat, drangen sie im April erstmals fast 200 Kilometer tief ins Land vor - bis nach Sinjar (Shengal), wo die Jesiden, eine religiöse Minderheit unter den Kurden, leben. Neu war auch, dass die Türkei die YPG-Milizionäre im Westen angriff. Die Schwesterorganisation der PKK rettete 2014 Tausende Jesiden vor der Verfolgung durch den IS. Die Türkei stuft sie wie die PKK als Terrororganisation ein.
Suleiman Cafer, Mitglied des jesidischen Verbands in Syrien, hält die zeitgleichen Angriffe nicht für einen Zufall. Der kurdischen Nachrichtenagentur ANF sagte er, er sehe dahinter ein System: Erdogan wolle zunächst die PKK auszuschalten, dann Sinjar im Irak und die von der YPG kontrollierte Autonome Administration Rojava im Norden Syriens einnehmen. "Der türkische Staat erfindet vor jedem Angriff einen Vorwand, mit dem er seine grenzüberschreitenden Operationen rechtfertigt", meint Cafer. Er suche sich außerdem Unterstützer in der jeweiligen Region. So soll der Ministerpräsident der kurdischen Regionalregierung, der Iraker Nidschevan Barzani, bei seinem Besuch in Ankara im Februar über Erdogans Angriffspläne informiert worden sein; die Regionalregierung macht wichtige Öl- und Gasgeschäfte mit der Türkei.
Zwischen den Fronten
Für die jesidische Zivilbevölkerung spitzt sich die Lage noch aus einem anderen Grund zu. Denn im Mai hat auch die irakische Armee Angriffe auf kurdische Milizen im Nordirak gestartet. "Dadurch mussten erneut Jesiden flüchten", berichtet der inzwischen in Bagdad lebende Jeside Dawood Shamoo. "Sie sind zwischen die Mühlen der unterschiedlichen Kräfte geraten."
Für die kurdische Minderheit ein trauriges Déjà-vu: Vor fast acht Jahren, am 3. August 2014, hatte der IS eine groß angelegte militärische Offensive gegen die von Jesiden bevölkerten Gebiete im Norden des Irak gestartet. Dabei wurden rund 5.000 Menschen getötet und 7.000 weitere verschleppt und entführt. Erst am vergangenen Donnerstag stimmte der Bundestag für die Anerkennung dieser Gräueltaten als Völkermord und bestätigte damit ein entsprechendes Votum des Petitionsausschusses.
Die Jesiden im Irak protestierten im Mai für den Abzug aller Konfliktparteien. "Sinjar den Jesiden", stand auf ihren Bannern. Das allerdings hält Ali Simoqy, der bis zur Eskalation der Lage für die Uno in Sindjar gearbeitet hat, für einen "frommen Wunsch".
Unklar bleibt, wann Erdogans Truppen in Nordsyrien einmarschieren. Türkische Aufklärungsdrohnen fliegen seit Wochen über das Gebiet. Und auch Syrien und Russland bereiten sich offenbar auf eine Auseinandersetzung vor: Nach Angaben von Major Youssef Hammoud, dem Sprecher der von der Türkei unterstützten Syrian National Army (SNA), haben beide ihre Truppen und die YPG in Erwartung einer Offensive verstärkt.
Mitarbeit: Birgit Svensson, freie Irak-Korrespondentin.