Israel : Schnitt ins Sicherheitsnetz
Benjamin Netanjahus Justizreform spaltet die Gesellschaft in Israel. Auch Bundeskanzler Scholz äußert Besorgnis ob der Pläne der israelischen Regierung.
Eigentlich hätte das Gespräch zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und Israels Premierminister Benjamin Netanjahu vergangene Woche im Bundeskanzleramt nur eine Stunde dauern sollen. Dass daraus dann doch knapp zwei Stunden wurden, liegt wohl an einem Thema, das nicht nur zwischen den beiden Regierungschefs Meinungsverschiedenheiten hervorrief, sondern auch in Israel die Gesellschaft spaltet: die drastischen Eingriffe ins Justizsystem, die für viele einer Entmachtung gleichkommt.
Seit Ende Dezember wird Israel von der am weitesten rechts stehenden Koalition regiert, die das Land je hatte. Sie ist ein Konglomerat aus rechtspopulistischen, ultrareligiösen und rechtsextremen Kräften, denen ein tiefes Misstrauen gegen die Justiz gemeinsam ist. In ihrem Koalitionsabkommen einigten sie sich auf einen grundlegenden Umbau des Rechtsstaates.
Präsidentin des Obersten Gerichtshofs spricht von "Zerstörung der Justiz"
Die Regierung nennt das "Justizreform", die scharfen Kritiker halten das für bodenloser Euphemismus. Die Regierung arbeite daran, "die Justiz zu zerstören", so die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, Esther Hayut, in einer Brandrede Mitte Januar. Sollte die Reform verabschiedet werden, sei das nichts weniger als "der Todesstoß für die israelische Demokratie", warnte Hayut.
Um die Tragweite dieses Vorhabens zu verstehen, muss man wissen, dass Israels Demokratie einige der Sicherungen, die Deutschlands Demokratie vor allzu großer Machtkonzentration schützen, nicht kennt. So existiert etwa keine geschriebene Verfassung, der alle einfachen Gesetze entsprechen müssen.
Auch eine föderale Ebene der Gesetzgebung gibt es in Israel nicht.- und damit auch keine Bundesländer, deren Regierungen einer zentralen Macht etwas entgegensetzen könnten. Dazu kommt, dass in Israel die Koalition auch das Parlament kontrolliert. Es ist üblich, dass viele Minister zugleich Abgeordnete der Knesset sind. Das gibt der Koalition absolute Sicherheit, dass jeder Wunsch der Regierung vom Parlament erfüllt wird. Sie muss sich erst gar nicht die Mühe machen, die Opposition für ihre Anliegen zu gewinnen: Nahezu alle Gesetzesbeschlüsse verlangen nur eine einfache Mehrheit im Plenum. Die Opposition hat de facto nichts mitzureden.
Schutz der Bürger vor Machtmissbrauch gerät in Bedrängnis
Angesichts dessen wird klar, welche zentrale Aufgabe der Justiz in Israel zukommt. Der Oberste Gerichtshof, der hier auch die Funktion eines Bundesverfassungsgerichts hat, ist das einzige Sicherheitsnetz, das die Bürger vor dem Machtmissbrauch der Regierung schützt. Dieses Netz will die Koalition unter Netanjahu nun beseitigen.
Der wohl wichtigste Punkt des Reformpakets der Regierung ist, dass Richterinnen und Richter künftig nicht mehr unabhängig sein sollen. Die Regierung soll bestimmen, wer dieses Amt bekleiden darf. Auch der Einfluss des Höchstgerichts soll massiv beschränkt werden. Derzeit kann es Gesetze aufheben, wenn sie im Widerspruch zu Grundrechten stehen. Die Regierung kann dann zwar das Grundrecht ändern, es braucht dafür nur eine einfache Stimmenmehrheit. Das dauert aber bekanntlich seine Zeit. In Zukunft soll der Oberste Gerichtshof nur noch mit hohen Hürden Gesetze aufheben können: Er muss in voller Richterbesetzung antreten und braucht vier Fünftel der Stimmen. Die Regierung kann also weiterhin mit einfacher Mehrheit Grundgesetze ändern, das Verfassungsgericht braucht ein Einverständnis von achtzig Prozent der Richter, um einfache Gesetze aufzuheben.
Selbst wenn das Höchstgericht einen solchen Beschluss fassen sollte, könnte die Regierung ihn ganz einfach ignorieren. Künftig sollen nämlich Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs per Beharrungsbeschluss im Parlament überstimmt werden können. Auch dafür braucht die Koalition nur ihre Stimmenmehrheit, die Opposition wird nicht gefragt.
Der Einfluss der Juristen soll auch innerhalb der Regierung dezimiert werden. Derzeit gibt es in allen Ministerien sogenannte "Rechtsberater". Ihre rechtliche Einschätzung gilt den Politikern als Richtschnur. Von einem Auswahlgremium bestellt, sind es Beamte, die die Amtsperiode eines Ministers überdauern - und damit auch für eine gewisse Kontinuität sorgen. Künftig sollen die Minister diese Berater persönlich und aus ihren politischen Kreisen auswählen.
Keine Mehrheit für Kompromissvorschlag von Staatspräsident Herzog
All diese Änderungen wurden bereits in erster Lesung im Parlament beschlossen, noch vor Monatsende will die Regierung wenigstens einen Teil davon final verabschieden. Einen Kompromissvorschlag von Israels Staatspräsident Isaac Herzog, der den Anliegen der Koalition zwar entgegen kommt, aber den Schaden für Israels Demokratie verringern soll, hat die Regierung abgelehnt.
Wie lange sich Netanjahus Kabinett diese Blockadehaltung noch leisten kann, ist unklar. Die Massenproteste gewinnen an Zulauf, die Koalition verliert an Rückhalt in der Bevölkerung. Dazu kommt immer schärfere Kritik aus dem Ausland - zuletzt auch von der Bundesregierung. "Mit großer Sorge" verfolge er die Pläne der israelischen Regierung, ließ Scholz Netanjahu wissen. "Unser Wunsch ist es, dass unser Wertepartner Israel eine liberale Demokratie bleibt."
Die Autorin berichtet für den österreichischen "Standard" aus Israel.