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Pragmatismus weicht Ideologie : Wie Xi Jinping die chinesische Volkswirtschaft umgestaltet

Jahrzehntelang sorgte der pragmatische Wirtschaftskurs der kommunistischen Partei für rasantes Wachstum. Damit ist es unter Xi Jinping vorbei.

30.12.2023
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Es gehört ungewöhnlich viel Mut dazu, wenn ein chinesischer Ökonom die Politik seiner Regierung öffentlich in Frage stellt. Doch der Frust, der sich bei Investoren-Veteran Fred Hu angestaut hatte, entlud sich zuletzt in deutlicher Kritik: "Die Menschen sind sich nicht sicher, ob die Führung sich noch den Reformen verpflichtet, von denen China so sehr profitiert hat", sagte der Gründer der "Primavera Capital Group" im November bei einem Forum in Singapur. Dieses Gefühl der Unsicherheit habe er seit Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung Ende der 70er Jahre niemals erlebt.

Dabei gilt Chinas Staatskapitalismus zurecht als historische Erfolgsgeschichte. 800 Millionen Chinesen konnten in den vergangenen Jahrzehnten der Armut entfliehen, auch dank der pragmatischen Führung der kommunistischen Partei. Unter Parteichef Xi Jinping jedoch hat sich die Stimmung zuletzt deutlich gewandelt. "Noch nie habe ich erlebt, dass ideologische Entscheidungen wichtiger geworden sind als wirtschaftliche Entscheidungen", sagte etwa Jörg Wuttke, langjähriger Präsident der europäischen Handelskammer, bereits 2022. Sein Nachfolger Jens Eskelund meint angesichts des zunehmend herausfordernden Geschäftsklimas sogar: "China muss sich entscheiden, welche Art von Beziehung es mit ausländischen Firmen haben möchte." Die Frage lässt sich darüber hinaus ganz grundsätzlich stellen: Welche Beziehung möchte Chinas Staatsführung unter Xi Jinping zur Marktwirtschaft haben?

Foto: picture alliance / CFOTO

Roboter am Piano: Chinas Führung setzt verstärkt auf Entwicklungen im Bereich KI und Robotik.

Ein Blick zurück: 1978 läutete Reformer Deng Xiaoping nach Jahrzehnten maoistischer Planwirtschaft die ökonomische Öffnung der Volksrepublik ein. Die erdrückende Ideologie warf Deng radikal über Bord, stattdessen solle die chinesische Bevölkerung "tastend, nach Steinen suchend den Fluss durchqueren". Das Aphorismus umschrieb, was im Grunde auch heute in den Start-ups im Silicon Valley gilt: Man muss neue Wege beschreiten, Experimente wagen und Dinge notfalls auch wieder verwerfen.

Für die kommunistische Staatsführung war dies ein revolutionärer Schritt: In nur wenigen Jahren wurden die ersten Sonderwirtschaftszonen ausgerufen, ausländische Firmen ins Land gelassen, die eigenen Staatskonzerne reformiert. Das Reich der Mitte entfesselte damals unglaubliche Marktkräfte, welche in jährlich zweistelligen Wachstumsraten resultierten. Dass in jener Zeit auch die Korruption wucherte und die Schere sozialer Ungleichheit auseinanderriss, wurde von der Parteiführung billigend in Kauf genommen. Denn auch das lehrte Deng Xiaoping seine Bevölkerung stets: Einige Chinesen müsse man zuerst reich werden lassen, die anderen werden später folgen.

Parteimitgliedschaft für mehr Karrierechancen

Inmitten der Goldgräberstimmung verkam das kommunistische Präfix der Partei nur mehr zum sinnentleerten Symbol, politische Ideologie spielte praktisch keine Rolle mehr. Dass man offiziell in einem sozialistischen Land lebte, negierten nicht nur die westlichen Expats. Auch die Kader selbst sahen in ihrer Parteimitgliedschaft vor allem opportunistische Karrierechancen und ein berufliches Netzwerk.

Einen ersten Wendepunkt stellte die globale Finanzkrise Ende der Nullerjahre dar: Während die Immobilienblase in den USA für soziale Verwerfungen sorgte, deren Auswirkungen praktisch bis heute nachwirken, konnte die Volksrepublik mit riesigen Konjunkturprogrammen - insbesondere in Infrastrukturprojekte - die Krise rasch und praktisch unbeschadet überwinden. Seither hat erneut ein Umdenken eingesetzt: Es braucht also doch eine starke staatliche Hand, die korrigierend in den wirtschaftlichen Kreislauf eingreifen kann.

Doch wie grundlegend Xi Jinping, der 2013 an die Macht kam, die chinesische Volkswirtschaft umgestalten würde, damit hätte niemand gerechnet.


„Die Privatunternehmen fühlen eine starke Präsenz der Regierung, was sich negativ auf ihre Entscheidungsfindungen auswirkt.“
Barry Naughton, Ökonom an der University of California

Barry Naughton von der University of California ist einer der wenigen Ökonomen, der gezielt dazu forscht, wie tiefgreifend Xi mit politischer Macht und flächendeckenden Regulierungen selbst die Anreizstruktur von Unternehmen umgestaltet hat. Dies gilt nicht nur für die bürokratischen Staatsbetriebe, die wieder an Bedeutung gewinnen, sondern auch für die Privatkonzerne: Sie sollen nicht nur nach Profiten streben, sondern sich stets auch den nationalen Interessen unterordnen. "Die Privatunternehmen fühlen eine starke Präsenz der Regierung, was sich negativ auf ihre Entscheidungsfindungen auswirkt. Das ist fundamental anders im Vergleich zum China, das wir noch vor zehn Jahren kannten", sagt Naughton, der während seines Forschungsaufenthalts in Peking vor dem Korrespondentenclub spricht. Dass sein Vortrag unter dem diplomatischen Schutz der niederländischen Botschaft abgehalten werden muss, ist ebenfalls Teil der neuen Verhältnisse.

Untermauert wird Naughtons These etwa von der Tech-Regulierungswelle, die die chinesische Regierung in den vergangenen drei Jahren durchgeführt hat: Scheinbar aus dem Nichts wurden sämtliche großen Internetfirmen, die zu den erfolgreichsten des Landes zählten, mit radikalen Gesetzesänderungen geschröpft. Es traf das Uber-Pendant "Didi", den Gaming-Konzern "Tencent" und die Lieferplattform "Meituan". Doch vor allem stand das Internet-Imperium von Jack Ma, dem einst reichsten Chinesen, im Visier der Behörden: Der Unternehmenswert des Konzerns Alibaba ist mittlerweile um mehr als drei Viertel gesunken. Dass dies eine riesige Kündigungswelle ausgelöst und das Problem der Jugendarbeitslosigkeit deutlich verstärkt hat, nahm die KP billigend in Kauf.

Schicksal verschwundener CEOs ist unklar

Dabei ging es ihr nicht nur darum, die mächtigen Privatunternehmer des Landes - als potenzielle Bedrohung für die Parteiherrschaft - in die Schranken zu weisen, sondern auch schlicht um den Zukunftskurs des Landes: Xi Jinping hat in seinen Reden offen erklärt, dass er mit den Ressourcen der chinesischen Volkswirtschaft vor allem die weltbesten Flugzeuge, Computer-Chips und E-Batterien produzieren will. Harte Technologie eben, die das Leben der Chinesen in den Augen des Präsidenten wirklich verbessern. Hingegen stellen für ihn die E-Commerce-Plattformen, Chat-Apps und Computer-Spiele der Internetfirmen nur sekundäre Spielereien dar.

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Wer sich als Unternehmer nicht der Parteidoktrin beugt, dürfte sich unter Xi Jinping wieder deutlich unsicherer fühlen. Allein dieses Jahr mussten mindestens elf Privatunternehmen einräumen, dass sie ihren Vorstandsvorsitzenden nicht kontaktieren können, ja keinen blassen Schimmer über dessen Verbleib haben. Ob es sich dabei um Korruptionsermittlungen handelt? Politische Grabenkämpfe? Niemand kann dies seriös beantworten. Der einzige Grund, warum die Öffentlichkeit überhaupt von den Schicksalen der verschwundenen CEOs erfährt, ist trivial: Börsennotierte Unternehmen haben schließlich gegenüber ihren Investoren eine Meldepflicht.

China steht vor Periode verlangsamten Wachstums

Schon jetzt deutet sich an, dass das Reich der Mitte vor einer Periode des verlangsamten Wachstums steht. Die einst zweistelligen Prozentzahlen, die alljährlich erreicht wurden, werden sich wohl in den 2030ern auf zwei bis drei Prozent einpendeln. In den Augen europäischer Staaten ist dies ein Traumwert, doch für China, das sich vom Wohlstandsniveau pro Kopf noch deutlich unter dem Niveau Rumäniens befindet, ist dies zu niedrig. Denn irgendwann, so viel steht fest, schiebt die Alterung der Bevölkerung dem schnellen Wachstum ohnehin einen Riegel vor.

Unter den meisten internationalen, aber auch chinesischen Beobachtern gibt es einen Konsens darüber, dass die Regierung vor allem den Konsum der Bevölkerung ankurbeln muss, um einen neuen Wachstumsmotor zu kreieren. Historisch liegt nämlich der Binnenkonsum in China so niedrig wie in keiner anderen Volkswirtschaft von vergleichbarer Größe, die Sparquote hingegen befindet sich auf einem Rekordhoch. Das hat vor allem mit dem rudimentären Wohlfahrtsstaat und dem spärlichen Gesundheitssystem zu tun. Jede Arbeitslosigkeit oder Krankheitsdiagnose kann selbst für Mittelstandsfamilien den finanziellen Ruin bedeuten.

Chinas Aufstieg zur Wirtschaftsmacht Nummer 1: Die Volkswirtschaft ist seit den 1980er Jahren rasant gewachsen, während die Wirtschaftskraft in den USA und der EU abgenommen hat.

Erprobte Gegenmaßnahmen gäbe es reichlich. EU-Handelskommissar Valdis Dombrovskis etwa hatte zuletzt während seines Peking-Besuchs die chinesische Regierung ganz offen dazu aufgerufen, dass sie ein Konjunkturpaket schnüren müsse, um den Konsum anzukurbeln.

Warum dies nicht geschieht, darüber scheiden sich die Geister. Desmond Shum, ein ehemaliger Bauentwickler in Peking, der sich - mittlerweile im britischen Exil - unlängst zu einem der schärfsten Kritiker der KP entwickelt hat, meint, dass die Regierung das Problem aus einem ganz simplen Grund nicht angehen möchte: "Dies bedeutet unweigerlich eine Umverteilung der Macht ." 

Der Autor ist freier China-Korrespondent und lebt in Peking.

Was ist Staatskapitalismus?

💡 Der Begriff bezeichnet eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die Grundzüge des Kapitalismus, wie Lohnarbeit oder marktwirtschaftliche Preisbildung, mit Elementen des Sozialismus, wie etwa staatliche Wirtschaftssteuerung und staatliches Eigentum an Unternehmen, verbindet.

👨‍⚕️ Geprägt wurde der Ausdruck von dem russischen Politiker und marxistischen Theoretiker Lenin, Gründer der Sowjetunion.

👉 Um die Rolle des Staates in der Wirtschaft in Ländern wie China zu charakterisieren, sprechen Wissenschaftler von einem "staatlich durchdrungenen" oder politischen Kapitalismus.