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Fan Yun im Interview : "Wir brauchen politische Stabilität, um uns gegen China zu behaupten"

Wie sich die Bevölkerung Taiwans demokratische Rechte erstritten hat, beeinflusst die Art und Weise, wie sie heute auf China blickt, sagt die Abgeordnete Fan Yun.

15.05.2023
True 2024-02-26T14:35:11.3600Z
5 Min

Frau Fan, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) beansprucht Taiwan als chinesisches Staatsgebiet und spricht sich für eine Vereinigung von Taiwan und China aus. Sie sind dagegen. Warum?

Fan Yun: Ich sehe keine Möglichkeit für die Taiwaner, eine Vereinigung mit China zu akzeptieren. Mit wem sollen wir uns denn vereinen wollen? Mit einem Land, das die eigene Bevölkerung brutal verfolgt? Natürlich beeinflussen auch meine Identität als Taiwanerin und die Erinnerungen an den Kampf um die Demokratie in Taiwan meine Ansichten.

Umfragen zeigen, dass die Zahl derjenigen Bürger Taiwans nachlässt, die sich als Chinesen bezeichnen. Dafür verstehen sich immer mehr als Taiwaner, so wie Sie selbst. Ist das auch ein Ergebnis der Bildungspolitik, die heute einen stärkeren Fokus beispielsweise auf die taiwanische Geschichte legt?

Fan Yun: Natürlich hat das einen Einfluss auf das Selbstverständnis junger Taiwanerinnen und Taiwaner. Mein Vater ist als Soldat [der nationalchinesischen Regierung, Anm. d. Red.] Chiang Kai-Sheks nach Taiwan gekommen. Aber die indigenen Taiwaner leben hier schon seit tausenden Jahren. Sie wurden während der japanischen Kolonialzeit ebenso unterdrückt wie durch das Regime Chiang Kai-Sheks. Als ich in der Schule war, lernten wir alles über die Geografie und die Geschichte Chinas. Aber wir haben nicht ein einziges Mal über die Geschichte der indigenen Taiwaner gesprochen. Jetzt fangen wir an, sie kennenzulernen und sie zu verstehen. Das ist ein Ergebnis der Bemühungen der DPP-Regierung in den 2000er Jahren.

Foto: Fan Yun
Fan Yun
von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) ist seit 2020 Abgeordnete im taiwanesischen Parlament. Zuvor war sie außerordentliche Professorin an der Abteilung für Soziologie der Nationalen Universität Taiwan. Sie hat an der Yale University in den Vereinigten Staaten in Soziologie promoviert.
Foto: Fan Yun

Die KPCh wirft der DPP vor, sie strebe in der Gesellschaftspolitik nach De-Sinisierung und der Unabhängigkeit Taiwans. Dient die Beschäftigung mit taiwanischer Geschichte dazu?

Fan Yun: Nein. Es geht einfach darum, zu wissen, woher wir kommen. Außerdem werden die Ansichten der jungen Generation zur Kommunistischen Partei Chinas auch durch andere Dinge beeinflusst. Etwa durch die Menschenrechtsverbrechen in Tibet und Xinjiang. Die Kommunistische Partei hat auch ihr Versprechen gebrochen, Hongkong Autonomie zu gewähren und der Bevölkerung dort stattdessen die demokratischen Rechte geraubt. All das führt zu einer Wertschätzung der Demokratie in Taiwan.

Taiwan war bis Ende der 1980er Jahre eine Diktatur. Sie wurden selbst Opfer massiver Überwachung. Wann haben Sie davon erfahren?

Fan Yun: Erst als frisch gewählte Abgeordnete, im Jahr 2021. Ich wurde von einem Komitee informiert, dass es eine Akte gebe. Das hat mich schockiert. Ich war in der Studierendenbewegung erst aktiv, als das Kriegsrecht bereits aufgehoben war. Wir dachten, in dieser Zeit wären keine Akten mehr angelegt worden. Natürlich wollte ich dann meine Akte sehen. Ich habe neun Stunden darin gelesen - man darf sie nicht mit nach Hause nehmen. Aber weil die Akte mehr als tausend Seiten umfasst, habe ich es nicht geschafft, alles zu lesen.

Wie hat sich das Lesen angefühlt?

Fan Yun: Das war ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als hätte jemand Tagebuch für mich geführt. Auch viele schöne Erinnerungen kamen wieder hoch - so vieles hatte ich vergessen! Ich habe mich daran erinnert, wie fortschrittlich wir damals schon gedacht haben. Und wie mutig wir waren, weil wir uns durch Drohungen seitens der Universitätsleitung nicht haben einschüchtern lassen. Aber zugleich war ich traurig und wütend. Ich konnte nachts nicht schlafen. Ich würde sogar sagen, in mir ist etwas kaputt gegangen. Ich habe erfahren, dass zwei oder drei Personen aus meinem engsten Umfeld, das aus vielleicht neun Leuten bestand, damals für den Staat spioniert haben. Sie haben uns verraten, unser Vertrauen missbraucht. Mit den meisten habe ich bis heute Kontakt. Aber ich weiß nicht, wer von ihnen spioniert hat. Die Namen sind geschwärzt. Das ist unfair. Es führt dazu, dass in gewisser Weise jetzt alle verdächtig sind.

Sollten die Namen freigegeben werden?

Fan Yun: Ich denke, die Akten sollten für die Opfer komplett zugänglich sein, aber nicht für die Öffentlichkeit. Ich bin auch dafür, dass die Akten bei Kandidaten für bestimmte öffentliche Ämter freigegeben werden. Die Bürger haben ein Recht zu wissen, ob Kandidaten damals auch für den autoritären Staat gearbeitet haben.


„Wir brauchen wirtschaftliche und politische Stabilität, um uns gegenüber China behaupten zu können.“
Fan Yun (DPP)

Obwohl die DPP seit Jahren die Staatspräsidentin stellt, wurden die Veröffentlichungsregeln nicht geändert. Kritiker vermuten, dies liege daran, dass auch in der DPP manche für die autoritäre Regierung gearbeitet haben.

Fan Yun: Die DDP-Mitglieder sind der Partei zu unterschiedlichen Zeiten beigetreten. Nicht für alle war der Kampf gegen die autoritäre Regierung deshalb gleich wichtig. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt. Während der Geschichte des demokratischen Taiwan haben die Menschen immer Kompromisse bevorzugt und Revolutionen abgelehnt. Wir brauchen wirtschaftliche und politische Stabilität, um uns gegenüber China behaupten zu können. Wenn das Streben nach Gerechtigkeit die politische Stabilität beeinträchtigen könnte, dann verschieben viele Taiwaner das lieber auf etwas später. Diese Mentalität prägt sowohl die Bevölkerung insgesamt wie die DPP.

Welche Schlüsse aus der autoritären Vergangenheit kann die taiwanische Gesellschaft ziehen?

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Fan Yun: Wir müssen einerseits noch genauer diskutieren, wer für die Verbrechen politisch und moralisch verantwortlich war und wer vielleicht nur kollaboriert hat, ein Mitläufer war. Darüber hinaus können wir lernen, dass Menschen etwa mit Geld verführbar sind. Das bedeutet, dass die Kommunistische Partei Chinas mit denselben Mitteln auch heute Leute dazu bringen kann, derartiges zu tun. Wir müssen lernen, damit umzugehen, um unsere Demokratie vor Unterwanderung durch die Kommunistische Partei Chinas zu schützen.

Wie werden sich die taiwanische Demokratie und der Umgang mit der Vergangenheit Ihrer Ansicht nach weiterentwickeln?

Fan Yun: Als ich Studentin war, gab es in Taiwan noch keine Demokratie. Und jetzt sind wir ein demokratisches Land - ich selbst wurde sogar als Abgeordnete gewählt! Damals gab es auch keine Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit. Jetzt sind mehr 40 Prozent der Abgeordneten im Parlament weiblich. Unser Fortschritt ist langsam, aber stetig. So haben wir viel erreicht. Deshalb bin ich hoffnungsvoll. Wir brauchen weitere öffentliche Diskussionen, auch in Bezug auf die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Damit haben wir erst begonnen.