Probleme im Schulsystem : Bildungsrepublik mit Schwachstellen
Immer mehr Schüler machen keinen Abschluss. Experten warnen davor, dass der pandemiebedingter Distanzunterricht die Situation noch verschärfen könnte.
Rund 52.000 Schülerinnen und Schüler haben die Schule im Jahr 2019 ohne Abschluss verlassen. Das von Bund und Ländern 2008 auf dem Bildungsgipfel in Dresden ausgerufene Ziel der "Bildungsrepublik" ist damit gescheitert. Von acht auf vier Prozent wollten die Gipfelteilnehmer bis 2015 die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss senken. Stattdessen lag sie laut Statistischem Bundesamt (StBA) 2015 bei 5,9 Prozent und ist seitdem weiter angestiegen - 2019 bundesweit auf 6,8 Prozent.
Realität im Corona-Jahr 2020: Einige Übergaben der Abiturzeugnisse und Ehrungen fanden, wie hier an der Bergschule Apolda, in einem Autokino statt.
Wer die allgemeine Schulpflicht nicht mindestens mit einem Hauptschulabschluss beendet und diesen auch später nicht nachholt, dem gelingt Bildungsexperten zufolge nur selten eine gesellschaftliche Teilhabe. "Ein fehlender Schulabschluss ist einer der Hauptrisikofaktoren dafür, in das Hartz-IV-System zu geraten", sagt Malte Sandner, Bildungsökonom am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Das gilt auch für die rund 22.000 Förderschüler, die 2019 rund 45 Prozent der Schulabgänger ohne Abschluss ausmachten, weil sie die Anforderung für einen Hauptschulabschluss nicht erfüllten.
Verschärfte Situation durch die Corona-Pandemie?
Die Suche nach einer Berufsausbildung gestaltet sich ohne Abschluss schwierig. Von allen 20- bis 34 Jährigen ohne Schulabschluss hatten 2019 70,4 Prozent laut Berufsbildungsbericht auch keinen Berufsabschluss. "Gerade mit Blick auf den extremen Fachkräftemangel, der noch größer werden wird, darf kein junger Mensch verloren gehen", betont Heinz Müller, Geschäftsführer beim Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz (ISM).
Er warnt, dass pandemiebedingter Distanzunterricht und ausgesetzte Präsenzpflicht die Situation noch verschärfen könnten. Zwar habe das StBA für das erste Pandemiejahr einen Rückgang der Quote auf 5,9 Prozent verzeichnet, doch dieser Wert sei trügerisch, sagt Müller. Viele Schulen seien sehr großzügig mit der Vergabe von Abschlüssen gewesen.
Für die kommenden Jahre rechnet Müller fest mit mehr Schulabgängern ohne Abschluss. Die Pandemie sei zugleich "Brennglas und Brandbeschleuniger" für bestehende Probleme im Schulsystem. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter warnte bereits davor, dass sich die Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss auf 104.000 pro Jahr verdoppeln könnte.
Schule kann zu Ort des Versagens werden
Warum brechen Jugendliche die Schule vorzeitig ab? Auf diese Frage gibt es laut Caterina Gawrilow, Leiterin des Arbeitsbereichs Schulpsychologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen, keine einfache Antwort: "Wenn wir uns drei verschiedene Schüler angucken, könnten dort drei verschiedene Faktoren im Vordergrund stehen." Häufig spielten individuelle Ängste, Mobbing, das Schulklima, das familiäre Umfeld, aber auch Umweltfaktoren wie die städtische Umgebung sowie das Verhalten des Freundeskreises eine Rolle. Für Schüler, die an Prüfungsangst leiden oder unter erhöhtem Leistungsdruck stehen, könne die Schule beispielsweise zu einem Ort des Versagens werden, deren Besuch sie meiden oder letztlich ganz verweigern. Im Gegensatz zum "Schule schwänzen", bei dem der Anreiz darin liegt, den Schulbesuch gegen eine vermeintlich angenehmere Aktivität zu tauschen, handele es sich hier um eine angstinitiierte Vermeidungsstrategie, so Gawrilow. Mit einem positiven Schulklima, geschultem Lehrpersonal und kleineren Klassenverbänden könne dem entgegengetreten werden.
Doch nicht alle Risikofaktoren befinden sich im direkten Schulumfeld. Wie die PISA-Studie von 2018 feststellte, hängen Bildungserfolg und damit auch die Chance auf einen Schulabschluss in Deutschland überdurchschnittlich stark vom Bildungshintergrund und sozioökonomischen Status des Elternhauses ab. Fehlendes Interesse an der Leistung des Kindes, eine Erkrankung der Eltern oder innerfamiliäre Konflikte können sich ebenfalls negativ auf den Schulerfolg auswirken. Der Bildungsbericht 2021 sieht außerdem eine Verbindung zwischen Migrationshintergrund und Bildungsarmut bei Schülern. Doch da ist Gawrilow skeptisch - die Datenlage sei zu schwach und die Zusammenhänge zu komplex, um einen Migrationshintergrund per se als Grund für Schulprobleme anzuführen.
Einigkeit unter Experten: Mehr Geld und Energie in Prävention stecken
Auch wenn die Gründe für einen Schulabgang ohne Abschluss sehr unterschiedlich seien, dürfe die Lösung des Problems nicht auf den einzelnen jungen Menschen abgewälzt werden, sagt ISM-Geschäftsführer Müller. Es gehe vor allem um strukturelle Fragen. Dass mehr Geld und Energie in präventive Maßnahmen gesteckt werden müsste, darin sind sich die Experten aus Bildungsökonomie, Pädagogik und Psychologie einig. Sie betonen, dass dabei bereits in der Grundschule angesetzt werden sollte. "Wer im ersten Schuljahr nicht richtig lesen und schreiben lernt, hat einen holprigen Bildungs- und Berufsweg vor sich", sagt Müller.
Laut den Experten müssen die Schulen mehr auf die Bedürfnisse des einzelnen Schülers eingehen können, um Probleme frühzeitig zu erkennen. Doch leider sei es immer noch so, "dass die Ausstattung von Schulen mit Schulpsychologen oder gemeinsame Projekte mit Jugendämtern von den finanziellen Mitteln der Kommunen abhängen", kritisiert Müller. Dabei sei es wichtig, die Ressourcenverteilung an die jeweilige Umgebung einer Schule anzupassen: "Schulen in einem sozialen Brennpunkt müssen komplett anders ausgestattet sein und einen anderen Unterricht machen." Doch seien solche Ansätze kaum umsetzbar. "Dafür ist die Bildungsadministration derzeit zu starr."