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Foto: picture-alliance/ZB/Patrick Pleul
Ungleiche Chancen: In Deutschland hängt der Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern sehr stark vom Elternhaus ab.

Soziale Herkunft entscheidend : Wie gerecht ist das deutsche Bildungssystem?

Lehrermangel und Unterrichtsausfall treffen vor allem Haupt- und Realschulen. Das hat Folgen für die Bildungschancen.

24.07.2023
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5 Min

Als Lehrerin Lisa Graf auf ihre neue Klasse trifft, schlägt ihr Unverständnis entgegen. "Haben Sie Scheiße gebaut oder warum sind Sie hier?", fragt eine Schülerin sie. Dass Graf, die studierte Gymnasiallehrerin ist, freiwillig als Vertretungslehrerin an eine sogenannte Brennpunktschule wechselt, versteht ihre Klasse nicht.

Die Deutschlehrerin hat verschiedene Facetten des Schulsystems kennengelernt und ihre Erfahrungen in einem Buch verarbeitet. In "Abgehängt - von Schule, Klassen und anderen Ungerechtigkeiten" schreibt sie über ihre Zeit an einem Gymnasium, wo Eltern Schulfeste organisieren. Und von sogenannten Brennpunktschulen, in denen sie das Geld für Schulausflüge teilweise aus eigener Tasche gezahlt und ihre Schützlinge morgens angerufen hat, damit diese zum Unterricht erscheinen.


„Kein anderes Land trennt seine Schüler so früh wie Deutschland.“
Marcel Helbig, Leibniz-Institut für Bildungsverläufe

Wer über den "gymnasialen Tellerrand" blicke, sehe, dass Kinder in sozialen Brennpunkten viel weniger Chancen und Möglichkeiten hätten, sagt Graf, die selbst eine schwierige Kindheit und Jugend hatte und sich der Schülerschaft an der Brennpunktschule dadurch oft näher fühlte als der auf dem Gymnasium. Sie habe viele Kinder und Jugendliche getroffen, die alle dasselbe Potenzial hätten. Doch während die einen sich "durch häusliche Unterstützung" entfalten könnten, seien die anderen von der Gesellschaft abgehängt und vom Bildungssystem benachteiligt, schreibt Graf.

Welche Chancen ein Kind im Bildungssystem hat, hängt in Deutschland überdurchschnittlich stark von der sozialen Herkunft ab. Während laut Hochschulbildungsreport fast 80 Prozent der Akademikerkinder später studieren, beginnen nur 27 Prozent der Schülerinnen und Schüler aus Nichtakademikerfamilien ein Studium.

Schule kann Bildungsdefizite kaum ausgleichen

Der Grundstein für diese unterschiedlichen Bildungslaufbahnen wird früh gelegt. Bereits zu Beginn der Grundschulzeit würden zum Beispiel erhebliche Unterschiede beim Wortschatz bestehen, sagt Bildungsexperte Marcel Helbig vom Leibniz Institut für Bildungsverläufe in Bamberg.

An die Schule werde dann oft die Hoffnung geknüpft, diese Unterschiede auszugleichen, sagt Helbig weiter. Eine Erwartung, die nicht erfüllt werde. Studien zeigen, dass der Schulbesuch die Ungleichheiten zwar nicht verstärkt, aber auch nicht behebt. Wer mit Defiziten in die Schule starte, verlasse sie in der Regel auch so, sagt Helbig.

Für diesen Umstand sind verschiedene Faktoren verantwortlich. Einer davon ist, dass sich das Bildungssystem sehr stark auf die elterliche Unterstützung verlässt. In vielen Bundesländern werden Kinder derzeit nur den halben Tag beschult. Der Großteil der Hausaufgaben und Vorbereitungen auf den Unterricht findet Zuhause statt. Wer dort aufgrund von Sprachbarrieren, Armut oder Vernachlässigung wenig bis keine Unterstützung erhält, ist benachteiligt.

Recht auf Bildung

Dabei darf das Bildungssystem eigentlich niemanden in seinem Recht auf Bildung diskriminieren. Das hat das Bundesverfassungsgericht im November 2022 im Zuge seines Urteils zu den Corona-Schulschließungen entschieden. Es gebe in Deutschland ein Recht auf Bildung, das gewisse Mindeststandards ebenso wie chancengleiche Teilhabe gewährleisten müsse, heißt es in dem Urteil. Was genau darunter falle, habe das Gericht offen gelassen, erklärt Michael Wrase, Bildungsrechtler an der Universität Hildesheim. "Man darf keine Revolution aus Karlsruhe erwarten", sagt Wrase. Die Richter stellten klar, dass sich aus dem Urteil zum Beispiel kein Anspruch auf ein neues Schulsystem herleitet.

Dabei kritisieren Experten und Lehrkräfte, dass genau dieses dreigliedrige Schulsystem gemeinsam mit der kurzen Grundschulzeit Hauptfaktoren für Chancenungleichheit und -ungerechtigkeit seien. Bildungsexperte Helbig mahnt: "Kein anderes Land trennt seine Schüler so früh wie Deutschland". Bis auf in Berlin und Brandenburg endet die Grundschulzeit in allen Bundesländern nach der vierten Klasse. Wenig Zeit, um Defizite auszugleichen. Internationale Studien zeigen laut Helbig, dass Kinder davon profitieren, wenn sie mit Leistungsstärkeren in einer Klasse sind. Doch statt alle über einen längeren Zeitraum gemeinsam zu fördern, setzt Deutschland auf Trennung.


„Ohne ausreichend Personal und zwar aus unterschiedlichen Berufsgruppen, nicht nur Lehrkräfte, kann eine Schule nicht vernünftig funktionieren.“
Deutschlehrerin Lisa Graf

Das Argument, dass ein gegliedertes Schulsystem die Kinder in ihren Bedürfnissen besser fördere, hält Helbig für ein "vorgeschobenes Argument der Eliten". Denn letztlich würden davon nur Gymnasien profitieren. Andere Schulformen hingegen hätten "eine schlechtere Lehrerabdeckung, es fehlt an Kindern, die andere mitziehen können und es gibt mehr Problem bei Sprache und Gewalt an diesen Schulen".

Das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit

So trifft beispielsweise der Lehrermangel vor allem Haupt- und Realschulen. In Sachsen-Anhalt, wo die Unterrichtsversorgung im Dezember 2022 bei nur 93,5 Prozent lag, fiel an diesen Schulformen besonders viel Unterricht aus. Für Helbig sehen viele " aktuell noch nicht, dass das ein riesengroßes strukturelles Problem ist, worunter gerade die sozial Benachteiligten leiden". Er vermutet, dass diese Entwicklung sich weiter verschärfen dürfte. Dass die benachteiligten Gruppen am meisten vom Personalmangel betroffen seien, sei jedenfalls das Gegenteil von Bildungsgerechtigkeit.

Auch Lehrerin Graf kennt das Problem mit zu wenig oder überlastetem Lehrpersonal: "Ohne ausreichend Personal und zwar aus unterschiedlichen Berufsgruppen, nicht nur Lehrkräfte, kann eine Schule nicht vernünftig funktionieren", sagt sie. Sie selbst sei für Fächer wie Hauswirtschaft eingesprungen.

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Der Fachkräftemangel - beim Lehrpersonal, aber auch bei Sozialkräften - spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, wie Deutschland für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen kann. Kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams und Sozialarbeit an allen Schulen klängen gut, seien aber bei der derzeitigen Personallage schwierig umzusetzen, sagt Bildungswissenschaftler Helbig. Mögliche Lösungskonzepte müssten für ihn daher den Fokus auf digitale Angebote oder eine bessere Ausbildung von Quer- und Seiteneinsteigern setzen. Generell muss laut Helbig bei jedem Lösungsansatz gelten, dort zu fördern, "wo Hilfe am meisten gebraucht wird"; also an Schulen in prekärer Lage.

Regierung setzt auf Startchancenprogramm

Auf gezielte Förderung setzt auch die Bundesregierung mit ihrem neuesten Fördervorhaben: das Startchancenprogramm. mit dem sie bundesweit 4.000 Brennpunktschulen - 60 Prozent davon Grundschulen - fördern möchte. Im Grunde eine gute Idee findet Helbig. Schließlich wisse die Forschung schon lange, dass eine frühe Förderung die größten Effekte habe. Ziel muss es laut Lehrerin Graf sein, Brennpunktschulen mit ausreichend Personal auszustatten, um so die Leistungsdefizite der Schülerschaft auszugleichen.

Bei der Frage, ob das Programm allerdings flächendeckend Veränderungen mit sich bringen werde, zeigen sich die Experten skeptisch. Bildungsrechtler Wrase, der das Bildungsministerium beim Startchancenprogramm beraten hat, kritisiert, dass ein Teil der Gelder für bauliche Maßnahmen genutzt werden solle. Ähnliche Programme hätten bereits gezeigt, dass solche Vorhaben nur sehr schwierig und langsam in die Tat umgesetzt werden könnte. Auch die Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern über die Verteilung der Gelder sei ein Problem. Bislang stellen die Länder sich quer bei der Vorstellung des Bundes, die Förderung ausschließlich nach Bedarf zu verteilen. "Am Ende werden Bundesländer, die große Probleme haben wie Nordrhein-Westfalen oder Bremen zu wenig Geld erhalten", befürchtet auch Helbig.