Interview zu Bürgerräten : "Je konkreter die Fragestellung, desto besser"
Die Grünen-Politikerin Marianne Birthler über Bürgerräte, ihre Stärken, ihre Probleme - und was sie bewirken können.
Frau Birthler, für welches Problem sind Bürgerräte die Lösung?
Marianne Birthler: Bürgerräte sind vor allem eine wichtige Art und Weise, Bürgerinnen und Bürger mit ihren Sichtweisen an politischen Entscheidungen zu beteiligen. Wobei eine solche Beteiligung niemals ein Ersatz für die repräsentative Demokratie sein kann - sondern immer nur Ergänzung. Und auch das nur unter bestimmten Voraussetzungen.
Welche sind das?
Marianne Birthler: Nötig ist eine solide Organisation und Moderation. Und nötig sind Inputs und Vorträge für Mitglieder des Bürgerrats, die in die Lage versetzt werden, kenntnisreich und verantwortungsvoll politische Entscheidungen zu treffen.
Marianne Birthler saß 2021 dem Bürgerrat "Deutschlands Rolle in der Welt vor".
Warum braucht es neben dem Parlament und der Öffentlichkeit in Form von Medien und sozialen Netzwerken überhaupt noch einen weiteren Ort für die politische Debatte?
Marianne Birthler: Das eine ist: Mit dem Bürgerrat lassen sich die Kompetenzen der nicht in der praktischen Politik tätigen Bevölkerung nutzen. Denn es wäre dumm, darauf zu verzichten. Das zweite ist: Man kann die Politik mit den Denkergebnissen aus dem nichtpolitischen Raum konfrontieren. Häufig kommt an dieser Stelle der Hinweis, dafür hätten Abgeordnete ja ihre Wahlkreise. Aber da reden sie eben auch nicht mit einem Querschnitt der Bevölkerung, sondern in aller Regel versammelt sich da die parteinahe Community. Und das dritte ist: Der Bürgerrat hat sich als ein Mittel der Politisierung und der Befähigung von Menschen bewährt, die Mechanismen der Politik besser zu verstehen.
Welchen Vorteil haben Bürgerräte gegenüber zum Beispiel einem Volksentscheid als Mittel direkter Demokratie?
Marianne Birthler: Es gibt zwei Haupteinwände gegenüber der Praxis von Volksentscheiden und anderen Instrumenten direkter Demokratie. Zum einen ist recht beliebig, welches Thema es schafft, aufgerufen zu werden - das ist oft eine Frage von Ressourcen, von Geld und Zugang zu Medien zum Beispiel, um für eine Frage mobil zu machen. Zum anderen besteht das Risiko, dass die Frage zu vereinfachend gestellt, die Komplexität eines Themas nicht berücksichtigt wird. Deswegen finde ich persönlich die Kombination von Bürgerrat und Volksentscheiden reizvoll. Da, wo die Fragestellung dies zulässt, da wäre auch die Frage beantwortet, was aus den Ergebnissen wird.
Apropos: Wenn die für die Politik nicht bindend sind - im Koalitionsvertrag heißt es ja lediglich, "eine Befassung des Bundestags mit den Ergebnissen wird sichergestellt" - verkommt der Bürgerrat dann nicht zu einem demokratischen Feigenblatt und fördert eben jenen Politikverdruss, dem er eigentlich abhelfen soll?
Marianne Birthler: Die Frage nach der Schnittstelle zwischen Bürgerrat und Politik ist ganz wichtig. Denn wenn der Bundestag einen Rat anregt und finanziert, dann muss er sich auch Gedanken machen wie er mit den Ergebnissen umgeht. Da braucht es verbindliche Vereinbarungen. Sonst entsteht der Eindruck, man habe es dem Ofen erzählt.
Wie ließe sich das vermeiden?
Marianne Birthler: Beispielsweise könnten aus jeder Fraktion Mitglieder des mit dem jeweiligen Thema befassten Bundestagsausschusses kommen, Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und sich dazu verhalten, vielleicht mit Vertreterinnen und Vertretern darüber diskutieren. Das könnte reichen. Besser wäre ein Wechselspiel von Parlament und Bürgerrat, an dessen Ende ein Gesetzentwurf steht oder eine Beschlussvorlage oder ein verbindlicher Volksentscheid.
Gibt es dafür Beispiele?
Marianne Birthler: Ich verweise da immer gern auf Irland. Irland ist das große Vorbild, das seit einigen Jahren schon Bürgerräte kennt. Das katholische Land hatte eines der ältesten und strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Jahrzehntelang wurde darum gestritten. Schließlich hat man einen Bürgerrat einberufen, der, von Experten unterstützt, beriet und das Thema letztlich auf eine Ja-Nein-Frage zuspitzte, über die 2018 in einem Bürgerentscheid abgestimmt wurde - mit einem für die Politik verbindlichen Ergebnis, nämlich einer deutlichen Mehrheit für ein liberaleres Abtreibungsrecht. Das war möglich, weil es eine Arbeitsteilung zwischen steuerndem Parlament und dem in Ruhe beratenden, Argumente wägenden Bürgerrat - und am Ende das bindende Referendum gab.
Wer sich als Demokratin und Demokrat versteht, müsste ja eigentlich jedes Mehr an Beteiligung und Mitsprache begrüßen - warum sind Bürgerräte dennoch umstritten?
Marianne Birthler: Da gibt es einmal gibt die Befürchtung, dass damit dem Parlament Entscheidungsgewalt, die ihm verfassungsmäßig garantiert ist, genommen und die repräsentative Demokratie ausgehöhlt wird. Da ist zum anderen die Angst vor unsachgemäßen Entscheidungen. Und es gibt außerdem Politiker, die dazu neigen, die Kompetenz der Bürger zu unterschätzen.
Die Ratsmitglieder sollen per Los bestimmt werden - wie lässt sich damit Repräsentativität herstellen?
Marianne Birthler: Das ist nicht ganz einfach. In der Praxis wird zwar mit Hilfe der Bürgerämter eine wirklich zufällige Gruppe von Beteiligten angeschrieben und gebeten mitzumachen. Aber natürlich ist die Entscheidung freiwillig und damit abhängig davon, ob die Angesprochenen sich für das Thema interessieren, ob sie das Ganze für sinnvoll halten - und ob sie überhaupt die Zeit haben. Und deshalb befürchte ich, dass die Zusammensetzung am Ende doch nicht ganz repräsentativ ist. Für dieses Problem ist noch keine Lösung gefunden worden.
Können Bürgerräte grundsätzlich von der Ernährung bis zur Verteidigungspolitik alles behandeln - oder gibt es Politikbereiche und Themen, die ausgenommen bleiben sollten?
Marianne Birthler: Ich glaube, prinzipiell gibt es da kein Grenzen. Sicher gilt: Je konkreter die Fragestellung, desto besser. Aber man darf Bürgerräte nicht unterschätzen, die können durchaus, eine vernünftige Organisation und Moderation vorausgesetzt, ziemlich komplexe Fragestellungen diskutieren. Wobei selbst die Befürworter von mehr Beteiligung zum Beispiel reine Haushaltsentscheidungen - wie viel Geld soll wofür ausgegeben werden - für nicht so gut geeignet halten. Das beträfe dann ja auch die Gesamtpolitik und die Relationen zwischen den verschiedenen Politikfeldern.
2021 waren Sie Vorsitzende des ersten Bürgerrats auf nationaler Ebene, der sich mit "Deutschlands Rolle in der Welt" befasste. Was haben Sie daraus mitgenommen?
Marianne Birthler: Am eindrucksvollsten war für mich, wie viele Teilnehmer die Einsicht gewonnen haben, dass Politik doch eine sehr komplexe Angelegenheit ist, bei der es nicht nur um Meinungen und Streit, sondern um Interessen und Kompromisse geht. Manche haben ihre Lust an der Politik entdeckt, nicht wenige wollten sich danach aktiver einmischen. Die Mitglieder sind jedenfalls anders aus dem Bürgerrat rausgegangen, als sie reingekommen sind.
Inwiefern?
Marianne Birthler: Mit mehr Verständnis für die Politik. Das wurde an einem Beispiel besonders deutlich. Dabei ging es um das Verhältnis zu China. Es wurden verschiedene Gruppen, gebildet. Die einen kümmerten sich um Wirtschaft, die anderen um Menschenrechte. Die kamen natürlich mit sehr verschiedenen Ansätzen wieder zurück, mussten aber zusammenfinden. Denn am Ende ging es darum, eine gemeinsame Formulierung und Empfehlung für die Politik zu entwickeln. Das war der Moment, in dem einige sagten, so schwierig hätten sie sich Politik nicht vorgestellt. Eine wichtige Erkenntnis, ein schöner Lerneffekt.
Die Befürworter von Bürgerräten werben mit mehr direkter Beteiligung des Souveräns. Doch am Konzept gibt es auch Zweifel.
Das alte Athen ist Vorbild für direkte Demokratie. Eine Mehrheit, Frauen, Unter-30-Jährige und Fremdarbeiter, konnte jedoch nicht über das Gemeinwesen mitbestimmen.