Gastkommentare : Mehr Bürgernähe durch Bürgerräte? Ein Pro und Contra
Können Bürgerräte zu mehr Bürgernähe der Politik führen? Unsere Gastkommentatoren Hannes Koch und Hagen Strauß im Pro und Contra über den demokratischen Mehrwert.
Pro
Bürgerräte können die Ressource Konsens bereitstellen
In der Politik das Los entscheiden zu lassen, mag als sperrige Idee erscheinen. Warum sollen politische Akteure durch die Zufallsauswahl bestimmt werden, wenn man sie auch wählen kann? Doch der erste ausgeloste Bürgerrat beim Bundestag wird demnächst diesen neuen Weg beschreiten. Das Verfahren könnte sich zu einer Ergänzung der parlamentarischen Demokratie entwickeln.
Diese ist nicht fundamental bedroht, doch büßt sie Vertrauen ein. Mitunter sinkt die Wahlbeteiligung auf bedenkliche Niedrigstände. Die öffentliche Debatte zerfasert; Extremisten versuchen, die Glaubwürdigkeit demokratischer Politik zu zersetzen. In dieser Situation können Bürgerräte helfen. Wer dem Verfahren einmal beigewohnt hat, stellt fest: Es nehmen Leute teil, die sich sonst nicht engagieren. Sie treffen auf andere, mit denen sie sonst niemals reden würden. Und meistens kommen die Laien am Ende ihrer Debatten zu überraschend konsensualen, wenig polarisierten Lösungen.
Das macht Hoffnung. Bereitschaft zum Engagement, Durchlässigkeit, Offenheit, Konsensfähigkeit sind wichtige Ressourcen, die die parlamentarische Demokratie dringend braucht. Bürgerräte können sie bereitstellen. Dabei sollte man sie aber nicht überschätzen. Entscheiden müssen weiter die gewählten Abgeordneten - mitunter beraten von den ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern.
Allerdings muss die Politik diese dann auch ernst nehmen. Eine Debatte im Plenum über den Abschlussbericht des Bürgerrates und eine weitere im Ausschuss reichen nicht. Wenn Leute sich engagieren, wollen sie mindestens wissen, was aus ihren Arbeitsergebnissen wird. Der Bundestag sollte ein Verfahren entwickeln, bei dem er über einzelne Bürger-Vorschläge abstimmt.
Contra
Auch nicht repräsentativer als das Parlament
Grundsätzlich gilt doch: Abgeordnete bekommen in ihren Wahlkreisen samstags am Infostand oder in ihren Ortsverbänden zu hören, welche Themen den Menschen unter den Nägeln brennen. So sollte es zumindest sein. Und gerade jetzt, wo es etwa um die große Frage des Heizungsaustausches geht, laufen die digitalen Postfächer voll. Wer davon nichts in seine politische Arbeit einfließen lässt, dürfte fehl am Platze sein.
Bürgerräte sind da - wenn überhaupt - lediglich ein zusätzlicher Arbeitskreis, falls man nicht mehr weiter weiß. 160 sollen dem Rat beim Bundestag angehören. Die Zahl sagt schon etwas über den geringen demokratischen Mehrwert aus, der durch Auswahlkriterien und Losverfahren, also durch gelenkte Zufälligkeit, nicht höher wird. Auch das erste Thema zündet wenig: "Ernährung im Wandel". Ziemlich abstrakt und aus Sicht vieler Menschen reine Geschmackssache. Vor allem nichts, bei dem die Politik dringend Nachhilfe benötigen würde. Neue Erkenntnisse sind davon nicht zu erwarten.
Bürgerräte bedeuten nicht automatisch mehr Bürgernähe. Sie sind nicht repräsentativer, als das Parlament es ist. Darum geht es ja im Kern, wenn man solche Gremien fordert. Müllmänner und die derzeit gut beschäftigten Handwerker werden sich eher nicht beteiligen, dafür aber jene, die bereits als Weltverbesserer unterwegs sind. Soll heißen: Ein Wesen der repräsentativen Demokratie ist, dass sie die Bevölkerungsstruktur eben nicht adäquat widerspiegeln kann. Denn am Ende entscheiden immer noch die Wähler, welche politischen Entscheidungen überzeugt haben und wer in den Bundestag einzieht. Nicht Bürgerräte - und schon gar nicht ein Losverfahren.