Bernd Siggelkow über die Risiken von Kinderarmut : "Können es uns nicht leisten, auch nur auf ein Kind zu verzichten"
Kinder sind für den Arche-Gründer Bernd Siggelkow die wichtigste und größte Ressource unseres Landes. Der Staat tut aus seiner Sicht zu wenig, um sie zu fördern.
In Deutschland leben, das hat der Deutsche Kinderschutzbund ermittelt, etwa 4,5 Millionen Kinder in oder in der Nähe von Armut. Das sind eindeutig 4,5 Millionen Kinder zu viel. Dass wir in unserem Land so viele Kinder vergessen und ihnen nicht die Hilfe zukommen lassen, die sie brauchen, darf nicht sein. Jedes Kind hat ein Recht auf ein gutes, sicheres Zuhause und gute Bildung.
Aus dem aktuellen "Chancenmonitor" der Stiftung "Ein Herz für Kinder" geht aber hervor, dass in unserem Land ein großes Ungleichgewicht herrscht. Darin heißt es: "Die einen (Kinder) wachsen behütet und in finanzieller Sicherheit auf, werden ihren Begabungen nach gefördert und haben später alle Möglichkeiten, im Leben durchzustarten. Die anderen wachsen in Armut auf und haben schon ab der Kita schlechtere Startchancen als andere - falls sie überhaupt eine Kita besuchen." Die schlechtesten Voraussetzungen fürs weitere Leben haben danach Kinder, deren Eltern kein Abitur sowie einen Migrationshintergrund haben und alleinerziehend sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Gymnasium besuchen, liegt bei nur 21,5 Prozent. Diesem Ungleichgewicht müssen wir entgegenwirken.
Hilfe jetzt und heute notwendig
Bodenschätze haben wir in Deutschland kaum noch. Aber wir haben tolle Kinder. Sie sind aus meiner Sicht die wichtigste und größte Ressource unseres Landes. Deshalb müssen wir unser politisches System, was sie angeht, grundlegend verändern. Die Probleme sind seit ja vielen Jahren bekannt, trotzdem wird viel zu wenig getan, um sie zu lösen. Dabei sagen wir immer: Unsere Kinder sind die Zukunft. Aber sie sind auch unsere Gegenwart. Sie leben jetzt und heute und brauchen jetzt und heute unsere Hilfe.
Badespaß im Freibad: Was für viele Kinder im Sommer selbstverständlich ist, können sich arme Kinder oft nicht leisten.
In unsere Einrichtungen kommen überwiegend Mütter, die täglich mit großen Schwierigkeiten kämpfen müssen. Oft haben sie zwei, drei oder vier Kinder, deren Vater oder Väter nicht mehr da sind und die auch keinen Unterhalt zahlen. Mit mehreren Kindern einen Arbeitsplatz zu finden, ist nahezu unmöglich. Kinder brauchen viel Aufmerksamkeit, Zeit und Liebe, da können Alleinerziehende nicht acht Stunden am Tag oder länger arbeiten gehen. Für gesundes Essen, für Bildung oder gar für Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist dann viel zu wenig Geld da. Vielen dieser Kinder, die in Armut aufwachsen müssen, schaue ich jeden Tag in die Augen. Oft gehen sie ohne Frühstück in die Schule, weil dafür Zuhause das Geld fehlt.
Viele Kinder kommen hungrig in die Schule
Kürzlich rief mich ein Schuldirektor aus Hamburg an, einer - wie ich immer dachte - reichen Stadt. In seine Schule kommen täglich rund einhundert Jugendliche zwischen 16 und 18 Jahren, ohne vorher gefrühstückt zu haben. Natürlich können diese Jugendlichen sich weniger konzentrieren und sind weniger aufnahmebereit für den Schulstoff. Oft stören sie dann den Unterricht. Der Direktor fragte mich ganz offen, ob ich ihm helfen könnte. In Hamburg war dazu niemand bereit, auch nicht die dafür zuständigen Behörden. Es ist übrigens eine staatliche Schule. Wir beliefern die Schule jetzt von Montag bis Freitag mit einem kostenlosen Frühstücksbuffet.
Ich kenne auch immer mehr Eltern, die mittags auf ein Essen für sich verzichten, damit die Kinder ein gesundes Abendessen bekommen - und das mitten in Deutschland. Durch die hohe Inflation können sich Hunderttausende von Müttern und Vätern immer weniger leisten, wovon natürlich auch die Kinder betroffen sind. Dabei sind sie vollkommen unschuldig an dieser Misere. Kürzlich habe ich auch gelesen, dass 40 Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen kein Geld auf dem Konto haben. Sie leben sozusagen von der Hand in den Mund. Eine kleine Gruppe an reichen Menschen besitzt aber die Hälfte des gesamten Sparvermögens. Ist das gerecht?
Aus der christlichen Perspektive heraus muss ich sagen: Nein, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Auch unser Wirtschaftssystem kann doch so nicht mehr funktionieren. Dazu kommt, dass rund 50.000 junge Menschen pro Jahr die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Sie finden zumeist keinen Arbeitsplatz und müssen später, wie ihre Eltern fast immer auch, von Transferleistungen, also vom Bürgergeld, leben. Gleichzeitig suchen wir in Deutschland Hunderttausende Fachkräfte, viele Stellen sind unbesetzt. Warum bilden wir unsere Kinder nicht genügend aus? Sie alle haben Stärken, die nur entdeckt und gefördert werden müssen. Die Schulen müssen sich dafür mehr auf die Kinder einstellen, und nicht umgekehrt. Es braucht mehr Lehrerinnen und Lehrer, mehr Pädagoginnen und Pädagogen. Die Kinder werden es uns später zurückzahlen, indem sie arbeiten und Steuern bezahlen.
Schulen müssen besser ausgestattet werden
Brennpunktschulen sollte es in Zukunft nicht mehr geben. Der Unterricht in einer Klasse mit einem hohen Anteil von Kindern aus geflüchteten oder bildungsferneren Familien kann nicht funktionieren, wir werden diese Kinder verlieren. Wir müssen sie so verteilen, dass es an jeder Schule einen gleich hohen Anteil an schwierigen Kindern und Jugendlichen gibt.
Auch darf die Qualität einer Schule nicht vom Einkommen der Eltern abhängig sein. Warum gibt es deutschlandweit Schulen mit heruntergekommenen Sanitärräumen, verwahrlosten Schulhöfen und ungemütlichen Klassenzimmern? Ohne Internetanschluss und Laptops? Jedes Kind sollte eine gut ausgestattete Schule mit gut ausgebildetem Personal besuchen können. Das sollte in einem wohlhabenden Land wie unserem machbar sein. Und wir können nur ein starkes Land bleiben, wenn wir starke und gut ausgebildete Kinder und Jugendliche ins Berufsleben schicken. Wir können es uns nicht leisten, auch nur auf ein Kind zu verzichten.
In Arche kommen Kinder aus 60 Nationen
Die sozialen Probleme sind in den vergangenen Jahren nicht kleiner geworden. Unzählige Familien aus arabischen Ländern und aus der Ukraine mussten ihre Heimat verlassen und fliehen. Fast alle diese Frauen, Männer und Kinder sprechen, wenn überhaupt, unsere Sprache nur sehr schlecht. Aber Integration funktioniert nur über Sprache, und wir dürfen die Menschen nicht einladen, zu uns zu kommen, um sie dann sich selbst zu überlassen. Das heißt, diese Kinder müssen früh in die Kitas und in die regulären Schulen gehen, um Deutsch zu lernen. Die kleineren Kinder brauchen dafür nur wenige Monate. Die älteren müssen nach der Schule soziale Einrichtungen wie unsere besuchen. In der Arche kümmern wir uns um Kinder aus mehr als 60 Nationen.
Noch immer haben wir auch mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Unzählige Kinder haben weiterhin starke Bildungsdefizite, die wir beständig versuchen auszugleichen. Gerade die Kinder aus bildungsfernen Familien hatten in dieser Phase oft keinerlei Kontakte zu ihrer Schule, auch weil es ihnen an den notwendigen technischen Geräten fehlte. Wir in den Archen, aber auch andere Nichtregierungsorganisationen, haben Kinder mit mobilen Endgeräten ausgestattet, damit sie mit ihren Schulen in Verbindung bleiben und mitarbeiten können.
Große Defizite beim Lesen und Schreiben
Besonders die Kinder der ersten drei Klassenstufen haben unter der Pandemie gelitten. Sie haben heute schwere Defizite beim Lesen und Schreiben und sind, wie wir es nennen, funktionale Analphabeten. Diese Kinder müssen heute noch stärker gefördert werden.
Ein früherer finnischer Bildungsminister hat vor einigen Jahren zu mir gesagt: "Wir in Finnland behandeln jedes Kind wie eine Königin oder einen König." Das sollten wir in Deutschland auch tun. Denn wir brauchen alle Kinder mit ihren Talenten und Fähigkeiten. Ohne sie hat unser Land keine Zukunft.
Der Autor ist Pastor und Leiter des christliches Kinder- und Jugendwerks "Die Arche"