Impfquote in Deutschland : Tödliches Zögern
Fast 24 Prozent der Impffähigen sind noch ohne Schutz vor einer Corona-Infektion. Jetzt kommt die Teil-Impfpflicht.
Seit 332 Tagen läuft die Impfkampagne in Deutschland. Eine 101 Jahre alte Heimbewohnerin aus Halberstadt war am zweiten Weihnachtsfeiertag 2020 die erste, die eine Impfung gegen das Corona-Virus bekam - mit dem auf der neuartigen mRNA-Technologie basierenden Impfstoff von Biontech/Pfizer, der nur fünf Tage zuvor in Europa zugelassen worden war. Mit ihm und den später zugelassenen Vakzinen von Moderna, Astra Zeneca und Johnson&Johnson (siehe Spalte links) sind in Deutschland bis zum 17. November rund 56,3 Millionen Menschen vollständig geimpft worden, das entspricht 67,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Um die Ausbreitung der ansteckenderen Delta-Variante zu stoppen und Kontaktbeschränkungen aufheben zu können, reicht das jedoch nicht. Laut einer aktuellen Studie des baden-württembergischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration, geleitet vom Tübinger Epidemiologen Martin Eichner, müssten für eine Herdenimmunität etwa 90 Prozent der Bevölkerung geimpft sein.
Die Ständige Impfkommission empfiehlt jedem vollständig geimpften Erwachsenen eine Auffrischungsimpfung, um Impfdurchbrüche zu verhindern.
Doch eine solche Impfquote liegt hierzulande in weiter Ferne. Zum einen, weil für Kinder unter zwölf Jahren, die knapp zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, noch keine Impfstoffe zugelassen sind. Was sich aber bald ändern könnte. Biontech/Pfizer und Moderna haben entsprechende Anträge bei der Europäischen Arzneimittelbehörde eingereicht, und insbesondere der Impfstoff von Biontech hat gute Chancen, noch vor Weihnachten eine Zulassung für Kinder ab fünf Jahren zu bekommen.
Impfbereitschaft: Spanne zwischen den Bundesländern ist groß
Was dann bleibt, ist die mangelnde Impfbereitschaft in Teilen der Bevölkerung, für die seit Monaten ausreichend Impfstoff zur Verfügung steht. Bis zum 17. November waren 50,6 Prozent der 12 bis 17-Jährigen nicht immunisiert, in der Altersgruppe der 18 bis 59- Jährigen waren es 25,7 Prozent. Von den über 60-Jährigen, für die das Sterberisiko bei eine Covid-19-Infektion am höchsten ist, haben bisher nur 14,3 Prozent auf einen Piks verzichtet. Die Spanne zwischen den Bundesländern ist groß. So sind in Bremen bereits 79,3 Prozent der Bevölkerung geimpft, in Sachsen nur 57,5 Prozent.
Die Folgen der Impfmüdigkeit lassen sich an den Sterberaten und der Zahl der Krankenhausaufenthalte gut ablesen. So sind aktuell laut Deutscher Krankenhausgesellschaft mehr als 90 Prozent der Intensivpatienten mit Covid-19 nicht oder nicht vollständig geimpft. Seit Beginn der Impfkampagne sind mehr als 12.600 Ungeimpfte an Covid-19 gestorben, aber nur 1.200 Geimpfte, von denen die allermeisten über 60 waren. Das passt zu den neuesten Studienergebnissen aus den USA. Danach ist das Risiko für Ungeimpfte, an Covid-19 zu sterben, elfmal höher als für Geimpfte.
Vermehrt Impfdurchbrüche festgestellt
Weil die Impfung gesunde, junge Menschen besser schützt als ältere, wie auch die Studie aus Baden-Württemberg zeigt, sind die steigenden Infektionszahlen besonders für Senioren ein Problem. Viele wurden Anfang des Jahres geimpft, Monate später lässt ihr Impfschutz deutlich nach. Es kommt vermehrt zu sogenannten Impfdurchbrüchen, symptomatischen Covid-19-Erkrankungen trotz Impfung. Seit der fünften Kalenderwoche - damals waren die ersten Personen vollständig geimpft - hat das Robert-Koch Institut (RKI) insgesamt 175.188 solcher "wahrscheinlicher Impfdurchbrüche" identifiziert. In den letzten drei Oktoberwochen lag ihr Anteil bei den symptomatischen Fällen in der Gruppe der 18- bis 59-Jährigen schon bei 41,6 Prozent, in der Gruppe der über 60-Jährigen bei 60,9 Prozent. Aktuell liegt bei rund 44 Prozent der über 60-jährigen Patienten auf Intensivstationen ein Impfdurchbruch vor. Allerdings muss die hohe Zahl bei Älteren im Lichte der hohen Impfquote (fast 86 Prozent) in dieser Altergruppe gesehen werden.
Da bei hohen Inzidenzen die Wahrscheinlichkeit steigt, mit dem Virus in Kontakt zu kommen, wird die Zahl der Impfdurchbrüche weiter steigen, schätzt das RKI. Schon in den vergangenen Wochen erkrankten Hunderte vollständig geimpfte Bewohner von Pflege- und Seniorenheimen schwer an Corona, Dutzende starben. In den betroffenen Einrichtungen war bis zu 50 Prozent des Personals nicht geimpft. Um dies künftig zu verhindern, wollen die Länder Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflege-und Behindertenheimen sowie bei mobilen Pflegediensten jetzt zur Corona-Impfung verpflichten. Darauf haben sich die geschäftsführende Bundesregierung und die Länder vergangenen Donnerstag verständigt. Schon im September wurde die Pflicht, dem Arbeitgeber auf Nachfrage Auskunft über den Corona-Impfstatus geben zu müssen, auf Beschäftigte in Pflegeheimen, Schulen und Kitas ausgeweitet. Sie galt bisher nur für Mitarbeiter in Krankenhäusern und Arztpraxen.
Studien heben hohe Schutzwirkung zugelassenen Impfstoffe hervor
Wie wichtig eine höhere Impfquote ist, betonen auch die Tübinger Forscher, die für ihre Literaturstudie zahlreiche internationale Publikationen ausgewertet haben. Aus ihnen geht hervor, dass geimpfte Infizierte um etwa 40 Prozent weniger ansteckend sind als nichtgeimpfte Infizierte. Von der nichtgeimpften Minderheit gehen daher etwa 64 bis 78 Prozent aller Infektionen aus.
Alle Studien heben die hohe Schutzwirkung der in Europa zugelassenen Impfstoffe hervor. So ist die Wahrscheinlichkeit, schwer an Covid-19 zu erkranken, bei vollständig geimpften Personen um etwa 90 Prozent geringer als bei nicht geimpften Personen. Der Schutz vor schweren Verläufen oder Tod soll bis zu neun Monate auf hohem Niveau anhalten.
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Weil die Infektionsrate in allen Altersklassen aber umso höher ist, je länger die Zweitimpfung zurückliegt, empfehlen Wissenschaftler nach etwa sechs Monaten eine Auffrischungs-Impfung ("Booster"). Allerdings haben eine solche in Deutschland erst 4,8 Millionen Menschen bekommen - viel zu wenig, wie Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut vergangene Woche in einer Bundestags-Anhörung betonte. Ihr Team hat errechnet, dass Boosterimpfungen in der jetzigen Situation nicht nur die Ausbreitung des Virus bremsen könnten. Sie würden auch den Anteil der Personen, die bei einem Impfdurchbruch intensivmedizinisch behandelt werden müssen, auf etwa ein Zehntel reduzieren - und zwar in allen Altersgruppen.
Die Ständige Impfkommission (Stiko) hatte die Booster-Impfung bislang nur für Menschen ab 70 Jahren, für Menschen mit Immunschwäche und Personal in medizinischen Einrichtungen empfohlen. Vergangene Woche weitete sie diese Empfehlung auf alle Erwachsenen aus.