Rede von Wolodymyr Selenskyj im Bundestag : "Bitte helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen"
Der ukrainische Präsident appelliert an Bundeskanzler Scholz, eine Führungsrolle einzunehmen. In Europa werde wieder versucht, ein ganzes Volk zu vernichten.
Seit 26 Tagen führt Russland Krieg in der Ukraine. Doch ein baldiges Ende der Kämpfe ist trotz der Verhandlungen zwischen beiden Seiten nicht in Sicht. Für die Bewohner wird die Lage immer dramatischer. Seit Kriegsbeginn haben die Vereinten Nationen 780 getötete Zivilisten dokumentiert, darunter 52 Kinder. Die tatsächlichen Zahlen lägen "mit Sicherheit" deutlich höher, heißt es im Hochkommissariat für Menschenrechte. Mehr als drei Millionen Menschen seien bisher aus der Ukraine geflüchtet, Millionen aber sitzen weiter fest.
Evakuierungsversuche aus stark umkämpften Gebieten sind wiederholt gescheitert. So harren in der belagerten und stark zerstörten Hafenstadt Mariupol seit mehr als zwei Wochen rund 350.000 Zivilisten ohne Heizung, Trinkwasser und Strom aus. Und auch im Westen des Landes, wo es bisher ruhig war, bereiten sich die Menschen auf Angriffe der russischen Armee vor. Am vergangenen Freitag ereigneten sich in der Nähe des Flughafens der westukrainischen Großstadt Lwiw - rund 80 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt - heftige Explosionen.
Stehender Applaus nach der Rede des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Bundestag, der dort allerdings schonungslos mit der deutschen Politik gegenüber Russland und der Ukraine abrechnete.
Einen Tag zuvor hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer live übertragenen Videoansprache vor dem Deutschen Bundestag einen eindringlichen Appell an die anwesenden Abgeordneten und Mitglieder der Bundesregierung gesendet: "Bitte helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen." In Europa werde wieder versucht, ein ganzes Volk zu vernichten, Putin zerstöre "alles, was wir uns aufgebaut haben". Die Abgeordneten spendeten Selenskyj sichtlich betroffen stehend Applaus.
Dabei rechnete der Präsident schonungslos mit der deutschen Politik gegenüber Russland und der Ukraine ab. Zu lange habe die Bundesregierung gezögert, harte Sanktionen gegen Russland zu verhängen und Waffen an Kiew zu liefern, zu lange sei an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 festgehalten worden. Viele deutsche Unternehmen machten weiterhin Geschäfte mit Russland.
Selenskyj fordert Öl- und Gasembargo gegen Russland
"Sie merken es vielleicht nicht alle", sagte Selenskyj, "aber Sie befinden sich wieder hinter einer Mauer. Nicht hinter der Berliner Mauer, aber einer Mauer mitten in Europa. Und diese Mauer wird stärker mit jeder Bombe, die auf unseren Boden in der Ukraine fällt und mit jeder Entscheidung, die nicht getroffen wird." An Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) persönlich richtete er die Bitte: "Zerstören Sie diese Mauer. Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient." Selenskyj wiederholte seine Forderung nach einer Flugverbotszone über der Ukraine und sprach sich erneut für ein Öl- und Gasembargo gegen Russland und einen EU-Beitritt seines Landes aus.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) versicherte ihm in ihren Eingangsworten, die Welt stehe der Ukraine bei. "Auch Deutschland ist an Ihrer Seite." Neben menschlicher Solidarität bedürfe es auch einer entschlossenen Politik. Sie verwies auf eine am Vortag verabschiedete gemeinsame Erklärung der G7-Parlamentspräsidenten, in der diese den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auf das Schärfste verurteilen und versprechen, Menschen, die aus der Ukraine fliehen, zu helfen.
Im Anschluss an die Rede Selenskyjs kam es allerdings zum Eklat. Dass Göring-Eckardt zur Tagesordnung überging, quittierten die Abgeordneten von CDU/CSU, AfD und Linken mit empörten Zwischenrufen, die Unionsfraktion forderte per Geschäftsordnungsantrag eine sofortige Aussprache über den Ukraine-Krieg und die Positionierung der Bundesregierung zur Rede Selenskyjs. Der Antrag scheiterte jedoch nach einer kurzen, hitzigen Debatte an den Stimmen von SPD, Grünen und FDP.
Abgeordnete fordern Waffenlieferungen
Bereits einen Tag zuvor hatte der Bundestag auf Antrag der drei Koalitionsfraktionen in einer Aktuellen Stunde über die Lage in der Ukraine debattiert. Selbstkritisch merkte Robin Wagener (Grüne) darin an, die russischen Deviseneinnahmen aus Importen fossiler Energieträger hätten den Krieg mitfinanziert. Jetzt gelte es, jeden Tag aufs Neue zu prüfen, was möglich sei, "um uns diesem Terror entgegenzustellen". Johann Wadephul (CDU) sprach sich für weitere Waffenlieferungen aus, um einen "ernsthaften Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit der freien Ukraine" zu leisten, und auch Michael Roth (SPD) betonte, nur eine wehrhafte Ukraine könne Putin zu ernsthaften Verhandlungen über einen Waffenstillstand bewegen. Alexander Graf Lambsdorff (FDP) versprach mit Blick auf Waffenlieferungen und Sanktionen: "Deutschland wird Kurs halten."
Sicherheitsexperten warnten Putin vor einem Einmarsch in die Ukraine - hellsichtig, aber vergeblich.
Die SPD-Wirtschaftspolitikerin Verena Hubertz warnt im Interview vor zu schnellen Reaktionen auf die ökonomischen Folgen des Krieges in der Ukraine.
Der Finanzminister legt seinen Etatentwurf für 2022 vor. Die Folgen des Kriegs in der Ukraine sind noch nicht eingepreist.
Für Die Linke sicherte Dietmar Bartsch der Bundesregierung Unterstützung zu bei ihren diplomatischen Bemühungen und "jeder Sanktionierung, die Sand in Putins Kriegsmaschine streut und Oligarchen trifft". Matthias Moosdorf (AfD) bezeichnete Sanktionen und Waffenlieferungen hingegen "nicht das Mittel der Wahl". In der heutigen Welt dürfe es keine Sieger und Verlierer geben, denn: "Es ist ein schmaler Grat, der uns von der Apokalypse trennt."
Mit Skepsis kommentierte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland. "Wir wissen nicht, ob das wirklich Gespräche sind." Ein Diktatfrieden habe wenig mit Frieden zu tun, merkte sie an. Der Ukraine sicherte Baerbock zu, "alles" zu tun. "Wenn wir zaubern könnten, wenn wir mehr Waffen liefern könnten, dann würden wir das tun."