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Verfassungspatriotismus : Der Kitt der Gesellschaft

Was stiftet Gemeinschaft, wenn Nationalismus keine Option mehr ist?

11.04.2023
True 2023-10-31T13:39:45.3600Z
2 Min

Was hält die Gesellschaft zusammen? Früher war es die Religion, dann der Nationalismus. Die eine hat an Bindungskraft verloren, der andere war nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft diskreditiert: In dieser Situation entwickelte der Politologe Dolf Sternberger nach 1945 seine Idee des Verfassungspatriotismus als einer Vaterlandsliebe, die sich auf eine rechtsstaatlich verfasste Republik fokussierte und nicht auf die völkische Nation.

Sternbergers Interesse galt der Frage, welches politische Zugehörigkeitsgefühl die Westdeutschen entwickeln könnten, da die Teilung des Landes eine national gefärbte Identitätsstiftung schwierig machte. Sternberger formulierte es so: "Wir leben nicht im ganzen Deutschland (...) Aber wir leben in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland."

Sternberger geht es um die gelebte Verfassung

Dabei ging es Sternberger nicht so sehr um das Grundgesetz mit seinen 146 Artikeln als Dokument, sondern, allgemeiner, um die gelebte Verfassung: Sternberger hielt es für wichtig, "dass Bürger sich gegenseitig nicht nur anerkennen, sondern auch wirklich ein Gefühl haben von Zusammengehörigkeit, das sich wiederum umsetzt in ein staatsbürgerliches Engagement", sagt der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller. Der Begriff des Verfassungspatriotismus begleitete dann eine Reihe bedeutender Kontroversen wie den Historikerstreit, die Verfassungsdebatte der deutschen Wiedervereinigung und die Diskussion um eine deutsche Leitkultur.


Jürgen Habermas
Foto: picture alliance / dpa
„Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“
Jürgen Habermas, Philosoph

Mitte der 1980er Jahre war es der Philosoph Jürgen Habermas, der das Konzept aufgriff und es damit richtig bekannt machte. Einige Historiker hatten Texte veröffentlicht, die die alleinige Schuld und Verantwortung Deutschlands für die Shoa relativierten wollten. Was folgte, war eine heftige Auseinandersetzung über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit und Identität. Habermas' Überzeugung mündete in das Diktum: "Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus."

Kritiker haben an dieser Idee manches zu bemängeln: Der Verfassungspatriotismus negiere die Tatsache, dass der Nationalstaat weiterhin das politische Ordnungsprinzip Europas sei. Der Verfassungspatriotismus sei ein Notbehelf für das geteilte Deutschland gewesen, für das wiedervereinigte reiche er nicht mehr aus. Es sei an der Zeit, dass die Deutschen, wie ihre Nachbarn, sich endlich wieder als eine normale Nation verstünden. Verfassungspatriotismus genüge nicht, um wirklich emotionale Bindungen zu erzeugen, er sei zu formal, zu rational, zu kühl.

Die Frontstellung hat sich abgeschwächt

Insgesamt betrachtet habe sich diese Frontstellung seit den späten Nullerjahren merklich abgeschwächt, meint Volker Kronenberg: Der Politologe schrieb, die alten Streitmuster seien einem "weitgehend konsensuellen Verständnis von Patriotismus" gewichen. Er führte das unter anderem auf die rot-grünen Regierungsjahre und eine Öffnung des linksdemokratischen Lagers gegenüber dem Begriff der Nation zurück, während zugleich von liberal-konservativer Seite die Forderung nach einem demokratisch-freiheitlichen Wertekonsens mit Anerkenntnis eines multikulturellen Pluralismus verbunden wurde.