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2005 wurde Hartz IV als soziale Grundsicherung eingeführt und brachte umfassende Arbeitsmarktreformen mit sich - aber auch Stigmatisierung und soziale Spannungen.

Grundsicherung : Nach der Reform ging's los

Hartz IV ist seit 2005 unzählige Male korrigiert worden. Nun soll es vom Bürgergeld abgelöst werden.

17.10.2022
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6 Min

Die letzten Tage auf Hartz IV". Damit sind nicht etwa die letzten Dezembertage 2022 gemeint, kurz bevor das Bürgergeld im Januar eingeführt wird. Es ist der Episodentitel einer offensichtlich erfolgreichen Serie im Privatfernsehen, in der "Promis" testen, wie es sich mit "Hartz IV" lebt. "Das Sozialexperiment stellt die Promis auf eine harte Probe. Stehen sie diese anstrengende Zeit durch? Wie werden sie sich in einem Leben in Armut behaupten?", versuchte RTL 2 im Januar Spannung zu erzeugen. Überraschenderweise waren die jeweiligen "Glamour-Paare" am Ende pleite und froh, aus der Platte wieder in ihre Villen übersiedeln zu können.

Folgen für den gesellschaftlichen Diskurs über Armut und deren Ursachen

Dass sich "Hartz IV" seit 2005 zu einer Marke entwickelt hat, die mit Armut, Abstiegsängsten und leider auch mit Stigmatisierung verbunden wird - dafür waren die Auswüchse im sogenannten Hartz-IV-Fernsehen nur ein trauriger Tiefpunkt. Der sich aus bildungsbürgerlicher Perspektive leicht naserümpfend beiseiteschieben lässt, der aber trotzdem zeigt, welch gravierende Folgen das Reformprogramm der rot-grünen Bundesregierung von Kanzler Gerhard Schröder Anfang der 2000er Jahre hatte. Nicht nur für die Arbeits- und Sozialpolitik der kommenden Jahre, sondern für den gesellschaftlichen Diskurs über Armut und deren Ursachen insgesamt. Und für die SPD im Besonderen, die seitdem Mühe hatte, sich noch als Partei der sozialen Gerechtigkeit, ihr Markenkern seit mehr als hundert Jahren, zu verkaufen. Bittere Wahlniederlagen folgten.

Regelsätze in der Grundsicherung

💶 2005 lag der monatliche Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen bei 349 Euro, heute liegt er bei 449 Euro. Hinzu kommen noch Kosten für Unterkunft und Heizung. 

📈📉Grundlage ist ein kompliziertes Verfahren, in dem die Ausgaben der unteren Einkommensgruppen für einzelne Lebenserhaltungskosten als Referenz dienen. Davon werden aber wiederum einzelne Posten abgezogen. Grüne, Linke und Wohlfahrtsverbände kritisieren das als "bewusste Kleinrechnung".



Dabei setzte die SPD eigentlich nur ein Versprechen um, mit dem sie 1998 im Bündnis mit den Grünen fulminant die Wahl gewonnen hatte. Sie sollte und wollte den Reformstau der letzten Jahre unter Langzeitkanzler Helmut Kohl (CDU) auflösen. Nach dem Wahlsieg warb der jung wirkende Kanzler Schröder für eine Politik der "Neuen Mitte", die Sozialpolitik in Zeiten zunehmenden Globalisierungsdrucks neu definierte. "Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft". Mit dieser Ansage schlug Schröder 2001 Pflöcke ein - für sein Programm und für die Debattenkultur der nächsten Jahre.

Schröder wurde zum "Genossen der Bosse" und nach dem knappen erneuten Wahlsieg seines Regierungsbündnisses 2002 brachte die Durchsetzung der "Agenda 2010" das bis dahin quasi natürliche Band zwischen SPD und Gewerkschaften fast zum Zerreißen. Die Union freut sich wahrscheinlich noch heute, dass nicht sie in Folge der Agenda 2010 zum Buhmann wurde, obwohl sie die Pläne ausdrücklich unterstützte. Und links von der SPD freute sich der Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine über eine neue Karriere in der WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit), 2004 hervorgegangen aus den Protesten gegen Hartz IV und später aufgegangen in der Linken.

Wie der Arbeitsmarkt in Deutschland umgekrempelt wurde

Zu dieser Zeit galt Deutschland mit mehr als vier Millionen Arbeitslosen als "kranker Mann Europas", der gleichzeitig einen aufgeblähten Wohlfahrtsstaat finanzierte. Ein "Vermittlungsskandal" bei der Bundesanstalt für Arbeit - die Behörde hatte jahrelang ihre Vermittlungszahlen manipuliert - brachte den Stein dann ins Rollen.

Was folgte, war die umfassendste sozialpolitische Reform seit Bestehen der Bundesrepublik. Sie fußte auf den Ergebnissen der 2002 eingesetzten "Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" unter Leitung des VW-Personalvorstands Peter Hartz. Hauptsächliches Ziel war, die Strukturen der Bundesanstalt für Arbeit zu erneuern und die Arbeitslosenzahlen zu halbieren. Die Reform des Arbeitsmarktes wurde dabei in einzelne Gesetze (Hartz I bis IV) aufgeteilt, die schrittweise zwischen 2003 und 2005 in Kraft traten. Die Bundesanstalt wurde zur Bundesagentur für Arbeit. Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden abgeschafft und stattdessen das Arbeitslosengeld I und II (ALG I und II), besagtes Hartz IV, eingeführt. Das ALG I als Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung wurde auf zwölf Monate begrenzt und sorgte bei vielen für Angst vor dem schnellen Absturz. Denn danach gibt es das deutlich niedrigere ALG II, verbunden mit dem Zwang, jede "zumutbare" Arbeit anzunehmen.

Es folgten unzählige Korrekturen

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Doch nach Inkrafttreten des Hartz IV-Gesetzes 2005 zeigte sich: Nach der Reform ist vor der Reform. Was folgte, waren unzählige Korrekturen - vor allem im ALG II. Einige davon waren gerichtlich erzwungen: Das Bundesverfassungsgericht verwarf 2007 nicht nur die eingeführte Struktur zur Betreuung der Grundsicherungs-Beziehenden und machte damit den Weg frei für die heutigen Jobcenter. Es erklärte auch die Berechnung der Regelsätze (2010) und deren Sanktionierung um 60 oder gar 100 Prozent (2019) für verfassungswidrig. Das Bildungs- und Teilhabepaket für Kinder und Jugendliche mit Zuschüssen für Schulbedarf und Klassenfahrten war eine Folge aus dem Urteils von 2010, die aktuelle Sanktionspolitik eine des Urteils von 2019.

Aber die wohl gravierendste Konsequenz der Agenda-Politik war die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeber. Der Mindestlohn war nötig geworden, weil der Niedriglohnsektor mit Dumpinglöhnen rapide gewachsen war. Der Lohndruck im unteren Entgeltbereich hatte deutlich zugenommen. Heute ist der Niedriglohnsektor, trotz Mindestlohn, bei 20 Prozent der Beschäftigten (knapp acht Millionen) verfestigt. Flexibler Arbeitsmarkt hieß auch: mehr Befristungen, mehr Leiharbeit, mehr Minijobs. Letztere werden von vielen Wissenschaftlern längst als Sackgasse, besonders für Frauen, kritisiert, weil sie kaum eine Brücke in reguläre Beschäftigung bieten. 2021 arbeiteten rund vier Millionen Menschen ausschließlich in einem Minijob - nicht alle natürlich unfreiwillig.

Hartz IV konnte die Kosten für den Sozialstaat nicht senken

Zweifellos hat sich der Arbeitsmarkt in den Jahren nach der Agenda 2010 deutlich erholt, die Arbeitslosenquote halbierte sich tatsächlich - von 13 Prozent 2005 auf sechs Prozent 2021. Deutschland wurde wieder zum Wachstumsmotor, auch wenn sich Wissenschaftler noch darüber streiten, welchen Anteil die Agenda 2010 daran hatte. Die Befürworter von Hartz IV erklären dies bis heute auch mit dem Prinzip des Förderns und Forderns. Sie werfen der Koalition vor, dieses mit dem Bürgergeld und seinen milderen Sanktionen wieder über Bord zu werfen. Insbesondere Arbeitgeber lehnen es ab. So kritisierte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Steffen Kampeter, das Bürgergeld sei keine Brücke in die Arbeitswelt, sondern in das Transfersystem.


„Wir brauchen eine Neubewertung von Arbeit.“
Michael David, Diakonie Deutschland

Dort verharren seit Jahren vor allem langzeitarbeitslose Menschen auf konstant hohem Niveau. Zwar ging deren Zahl nach 2005 deutlich zurück: Ihr Anteil an allen Erwerbslosen lag 2007 noch bei 46 Prozent und vor dem Pandemie-Jahr 2019 bei 32 Prozent. Dennoch blieb es einer der häufigsten Kritikpunkte: Die Aktivierungspolitik in den Jobcentern schaffe es nicht, den verfestigten Sockel von rund 800.000 Langzeitarbeitslosen deutlich abzuschmelzen. Nur die besten Maßnahmen reduzierten, so schrieb Markus Promberger vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) 2015 an dieser Stelle, die Zeit ohne Job um ein Fünftel oder ein Zehntel. Das Prinzip der Vermittlung in Arbeit um jeden Preis, egal wie passend diese ist, bot den meisten Arbeitslosen also keine nachhaltige Perspektive. "Sehr gut" sei deshalb die Schaffung von Anreiz- und Bonussystemen und das Primat von nachhaltiger Qualifizierung vor prekärer Arbeit um jeden Preis", urteilt deshalb Michael David, Referatsleiter Soziales bei der Diakonie Deutschland über den neuen Ansatz des Bürgergeldes.

Zahlen zu Empfängern von Grundsicherung schwanken zwischen fünf und sechs Millionen

Was die Hartz-Gesetze auch nicht schafften: die Kosten für den Sozialstaat, die Zahl der Hilfebedürftigen und die Armutsgefährdungsquote zu senken. Die Zahl der Menschen, die Grundsicherung beziehen, schwankt seit Jahren zwischen fünf und sechs Millionen.

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Gründe genug gab es also für die SPD, sich 2019 mit ihrem Sozialstaatskonzept von einem System zu trennen, das ihr nachhaltig geschadet hat. Das Bürgergeld, das freilich ein Mix ist aus SPD-Ideen und jenen der Grünen und der FDP, soll nun den Befreiungsschlag bringen. Für einige Kritiker steckt dagegen noch zu viel Hartz IV darin. Für Michael David reicht es nicht, um Armut zu bekämpfen: "Wir brauchen eine Neubewertung von Arbeit. Gesellschaftlich wichtige Tätigkeiten müssen auch finanziell richtig bewertet werden - von Einzelhandel und Landwirtschaft bis zu sozialen, gesundheitlichen und familienbezogenen Angeboten."