Streit um Kunstschätze : Wem gehört die Nofretete?
Die Benin-Bronzen werden nach Nigeria übertragen. Der Streit über Schätze im kolonialen Kontext geht weiter.
Ludwig Borchardt pflegte seinen Mittagsschlaf. Auch darüber führte der kaiserlich legitimierte Archäologe in Ägypten pingelig Buch. Seine Tagebuch-Eintragungen wichen in Schriftform und Daten kaum von anderen früheren Registrierungen ab. Geschäftigkeit eben wie stets. Und doch gab es bei der Erfassung vom 7. Dezember 1912 einen kleinen Unterschied: Borchardt hatte seinem Text eine miniaturhafte Zeichnung beigefügt, nämlich die Gesichtskonturen einer Pharaonin. Es handelte sich um Nofretete, die "Schöne, die da kommt", wie die Übersetzung lautete.
Keine einfache Debatte: Die Berliner Museumsinsel mit ihren Schätzen aus kolonialer Vergangenheit sieht sich Vorwürfen von "Raubkunst" in ihren Sammlungen ausgesetzt.
Borchardt, von Haus aus Bauingenieur, der noch ein Studium der Ägyptologie absolvierte und auch die arabische Sprache erlernte, erkannte sofort, welche Kostbarkeit er in den Händen hielt: ein Meisterstück aus der Amarna-Zeit, hergestellt von dem Bildhauer Thutmosis. Deshalb trennte er, nach seiner Ruhepause, die wertvolle Büste von den anderen Ausgrabungsstücken.
Das Londoner System der tiefen Keller
Nach Berlin berichtete er dem damaligen Direktor des Ägyptischen Museums, Heinrich Schäfer: "Die Verhältnisse sind hier derart schwierig, dass jede überflüssige Demonstration von Funden schädlich wirken kann." Nur ein paar Tage später schickte er nochmals eine nachdrückliche Mahnung: "Ich bitte aber ernstlich, die Sache nicht nur diskret, sondern auch sekret zu behandeln. Die Verhältnisse werden jetzt von Tag zu Tag schwieriger. Wenn wir überhaupt noch Gutes aus unseren Grabungen haben wollen, werden wir das Londoner System der tiefen Keller annehmen müssen, so schwer es auch manchen von uns werden mag."
Doch zunächst musste Borchardt seine Kostbarkeiten erst einmal außer Landes bringen, und da waren die politischen Verhältnisse einigermaßen vertrackt. Ägypten gehörte formal zum Osmanischen Reich. Aber dass Konstantinopel die vollen Souveränitätsrechte dort ausüben konnte, lässt sich nicht behaupten.
Der französische Sachkenner Levebvre hatte keinen besonderen Blick für die Qualität von Büsten.
Zwar war ein Vizekönig eingesetzt worden, aber die tatsächlichen Entscheidungen trafen die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Allerdings verschafften sich die Engländer einen signifikanten Vorteil, indem sie den Suezkanal finanzierten. Dennoch gestatteten die Briten den Franzosen, den Vorsitz des Antikendienstes zu behalten.
Dabei hatte Borchardt das notwendige Quäntchen Glück. Zwar besteht das Gerücht, der deutsche Ägyptologe habe die Büste der Nofretete mit Lehm beschmiert, um ihre außergewöhnliche Einmaligkeit zu verschleiern. Denn es bestand die Vorschrift, dass von den Grabungsfunden ein bestimmter Anteil im Land bleiben musste. Allerdings war der junge französische Sachkenner Gustave Levebvre ein Experte für Papyrus, für die Qualität von Büsten hatte er wohl kaum einen besonderen Blick.
Die Geheimnistuerei Borchardts setzte sich immerhin fort, wie die beiden Autoren Jürgen Gottschlich und Dilek Zaptcioglu-Gottschlich in ihrer Dokumentation "Die Schatzjäger des Kaisers" den Beutezug deutscher Archäologen im Orient darlegen. Bei einer Ausstellung im November 1913 in Berlin fehlte nämlich die Büste der Nofretete unter den Grabungsfunden. Erst ein Jahrzehnt später war der Antikenforscher bereit, sein Prunkstück den Berliner Besuchern zu präsentieren.
Ägypten fordert seit Jahren die Rückgabe der Büste
Daher wirken einige juristische Vorwände, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) heute nach wie vor wie selbstverständlich in Anspruch nimmt, höchst zweifelhaft. Denn ganz auf der Linie von Borchardt heißt es da: "Bei der anschließenden Fundteilung wurde die Büste der deutschen Seite zugesprochen."
Und: "Mit der offiziellen Fundteilung endete die Grabungskampagne von 1912/13. Alle der Berliner Seite zugesprochenen Funde gingen vertraglich geregelt in das Eigentum von James Simon über, der sämtliche Amarna-Funde - auch die Büste der Nofretete - dem Berliner Museum im Jahr 1920 in einer unvergleichlich großzügigen Geste vermachte." Zahi Hawass, früherer ägyptischer Minister für Altertumsgüter, sieht das anders: Er fordert seit Jahren die Rückgabe der Büste an Ägypten und will nun eine Petition mit Fachkollegen an die deutsche Bundesregierung auf den Weg bringen.
Im Jahr 2018 nahm die Diskussion um die Rückgabe der "Benin-Bronzen" Fahrt auf.
Was immer die Beweggründe und die Motivation des geschäftigen Forschers Borchardt im Umgang mit dieser komplexen Thematik gewesen sein mögen: Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die sowohl an der Technischen Universität Berlin als auch an der Pariser Sorbonne lehrt, nennt die Kalamität um die Nofretete eine "deutsch-französische Affäre".
Nun ist eine solche Metapher unseren heutigen Ohren nicht fremd. Denn bei vielfältigen Beziehungen innerhalb der Europäischen Union tauchen immer wieder unterschiedliche Tatbestände und Lösungswege auf - auch wenn sich die Regierungen in Paris und Berlin einen besonders funktionsfähigen Draht zugutehalten. Aber Savoy ließ 2017 nach ihrem Ausscheiden aus dem Expertenrat des Humboldt Forums mit der Bemerkung zitieren, die Konzeption der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die weitgehend über die Museumsinsel waltet, sei "unter einer Bleidecke begraben, damit bloß keine Strahlung nach außen dringt".
Großbritannien verscherbelte die Benin-Bronzen auf dem Kunstmarkt
Damit geriet SPK-Präsident Hermann Parzinger ins Blickfeld. Er hatte sich in der Vergangenheit in der Restitutionsdebatte eher zugeknöpft geäußert, mal Ja, mal Nein sagend, vielmals Vielleicht. Als 2018 die Diskussion um die Rückgabe der "Benin-Bronzen" Fahrt aufnahm, fragte Parzinger zunächst, "ob Afrika heute nicht drängendere Probleme" habe.
Dass die Kolonialmacht Großbritannien die Bronzen bei einer "Strafexpedition" 1897, wie es immer heißt, erbeutete und dann auf dem Kunstmarkt verscherbelte, machte die Sache nicht besser. Gleiches gilt für das Deutsche Kaiserreich, das viele dieser ansehnlichen Metallschöpfungen bedenkenlos erworben hat.
512 Bronzeskulpturen des Ethnologischen Museums Berlin werden an Nigeria übertragen
Nach einer gemeinsamen Erklärung von Außenministerin Annalena Baerbock und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Bündnis 90/Die Grünen) mit ihren nigerianischen Amtskollegen Anfang Juli zur Rückgabe der Benin-Bronzen wurde nun Ende August ein Vertrag zwischen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und der staatlichen Kulturkommission von Nigeria unterzeichnet. Damit wird das Eigentum an 512 Bronzeskulpturen aus der Sammlung des Ethnologischen Museums Berlin an Nigeria übertragen, weitere hunderte aus deutschen Museen kommen hinzu.
Die Tatsache, dass ein Drittel der Berliner Objekte vorerst als Leihgaben im Humboldt Forum zur Kunst und Kultur Benins zu sehen sein werden, unterstreiche das große Vertrauen, das in den gemeinsamen Gesprächen der letzten Jahre entstanden ist, betonte Parzinger nun. Kulturstaatsministerin Roth sprach von einem "Vorbildcharakter für alle Museen in Deutschland, die Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten besitzen".
Klar ist auch, dass mit dieser Rückgabe der Druck auf das British Museum in London steigt: Das Haus will im Gegensatz zu einer Reihe renommierter Einrichtungen in Großbritannien, den USA, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, die in seinem Besitz befindlichen Benin-Bronzen behalten.
Abba Tijani, Generaldirektor der nigerianischen National Commission for Museums and Monuments, pries die Rückgabe aus Berlin als Zukunft der Zusammenarbeit zwischen Museen, "in der den legitimen Forderungen anderer Nationen und traditioneller Institutionen Respekt und Würde entgegengebracht werden". Andere Museen außerhalb Deutschlands seien "aufgefordert, der Stiftung Preußischer Kulturbesitz nachzueifern".
Umstände des Erwerbs solcher Artefakte in kolonialen Kontexten prüfen
Für manchen Beobachter besteht in den vielzähligen Debatten über die Restitution von Kulturgütern in kolonialen Kontexten indes die Gefahr, dass das Kind gleichsam mit dem Bade ausgeschüttet wird. Für den vormaligen SPD-Fraktionschef in der freigewählten DDR-Volkskammer, Richard Schröder, "kann die Rückgabe nicht am Anfang stehen", wie er 2021 mit Blick auf die Debatte über die Rückgabe solcher Artefakte schrieb.
Schröder, der sich vor allem an Argumentationen des Publizisten Götz Aly reibt, beispielsweise dessen Darstellung zum Erwerb des Ausstellungsstücks Luf-Boot im Humboldt Forum, gelangt in einer "kritischen Auseinandersetzung" zum Befund, dass in der "Raubkunst-Debatte" manches zu kurz komme, die Umstände des Erwerbs solcher Artefakte in kolonialen Kontexten nicht immer und umstandslos als "Raub" deklariert werden könnten.
Mehr ethische als juristische Fragen
"Da ist eine Phase des Dialogs mit den Fachleuten der Herkunftsländer notwendig. Keine Seite sollte hier die Deutungshoheit für sich beanspruchen und jede sich mit entgegenstehenden Deutungen gründlich befassen." Keinesfalls nach dem Motto: "Alles oder nichts", meint Schröder, der für das Land Brandenburg als Verfassungsrichter tätig ist.
In diese Richtung zielt auch Wiebke Ahrndt, Leiterin des Bremer Übersee-Museums, in einem Interview mit dieser Zeitung Anfang 2020: "Wir brauchen moralische Kategorien. Denn wir reden bei diesem Thema vielmehr um ethische als juristische Fragen. Es ist eine Frage der Ethik, wie wir mit den Sammlungen umgehen. Es ist auch gut, dass Deutschland begonnen hat, sich seiner kolonialen Vergangenheit zu stellen und Verantwortung zu übernehmen. Aber ich wünsche mir, dass wir uns mehr Zeit zum Anhören der Vielstimmigkeit aus den Herkunftsgesellschaften lassen. Wir waren sehr schnell mit der Antwort. Aber die kann nicht allein 'Rückgabe' heißen."
Von einem Lernprozess spricht Hartmut Dorgerloh, Generalintendant des Humboldt Forums in Berlin, wo die Benin-Bronzen nun noch einmal zu bestaunen sind. "Wir haben gelernt, dass Restitution viel mehr ist als ein Verwaltungsakt, sondern ein gemeinsamer, interkultureller und bestenfalls ein produktiver Aushandlungsprozess. Und dass es um persönliche Bezüge, um Selbstermächtigung, um kulturelle Identität und um Würde geht. Und wir haben gelernt, zuzuhören."
Es ist wohl angebracht, die Restitutions-Debatte mit ihren zuweilen schrillen Zungenschlägen und Übertreibungen, aber auch die menschlichen Entfremdungen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Nicht um des lieben Friedens willen, sondern um den Preis der Aufrichtigkeit und Wahrheit.
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