Albrecht Ritschl im Interview : Wie der Dawes-Plan für die "Goldenen Zwanziger" sorgte
Ab 1924 musste die Weimarer Republik weniger Reparationen zahlen. Es folgte ein Boom auf Pump, die Blase platzte, es kam zu Wirtschaftskrise und Aufstieg der NSDAP.
Herr Professor Ritschl, am 9. April 1924 hat eine internationale Kommission der Gewinner-Staaten des Ersten Weltkriegs einen Plan vorgelegt, der dem Deutschen Reich die Zahlung von Reparationsleistungen erleichtern sollte, die Deutschland als Wiedergutmachung für den Angriff auf Frankreich 1914 leisten musste. War der Dawes-Plan ein Erfolg?
Albrecht Ritschl: Kurzfristig ja, langfristig nein. Er hat zwar erheblich zu den "Goldenen Zwanziger Jahren" beigetragen, aber das war eine Konjunktur auf Pump, die 1929 zusammenbrach.
Weshalb?
Albrecht Ritschl: Der Dawes-Plan sollte Deutschland mit Auslandskrediten und einer Atempause bei den Reparationen wieder auf die Füße helfen. Ohne ausreichende Steuereinnahmen und konfrontiert mit hohen Reparationsforderungen hatte die Weimarer Republik rasant steigende Inflationsraten erlebt. 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet. Die Goldreserven der Reichsbank schmolzen weiter ab. Mit der Rentenmark, einer realwertgesicherten Parallelwährung, wurde die Stabilisierung 1923 zwischenfinanziert. Aber zu ihrer Absicherung brauchte es eine Anschubfinanzierung aus dem Ausland, damit devisenbringende Exporte wieder anliefen. 1924 sah es zunächst so aus, als ob das funktionieren würde. Die Reichsbank konnte in kurzer Zeit ihre schmalen Devisenbestände wieder erhöhen.
Inwiefern führte das zu einer wirtschaftlichen Erholung?
Albrecht Ritschl: Womit damals niemand rechnete: Mit dem Dawes-Plan brach ein regelrechter Tsunami an Krediten aus dem Ausland über Deutschland herein, obwohl die Weimarer Republik mit Blick auf ihre Reparationen eigentlich überschuldet war. Das führte in den Folgejahren zu einem konjunkturellen Boom auf Pump. Die Deutschen erlebten ihre "Goldenen Zwanziger". Das ging gut bis 1929. Dann platzte die Blase.
Weshalb haben die privaten Geldgeber, vor allem amerikanische Banken, das nicht gesehen?
Albrecht Ritschl: Das lag an den Regelungen im Dawes-Plan. Nach dem Versailler Vertrag musste Deutschland zuerst seine Reparationszahlungen leisten, bevor es andere Schulden und Zinsen zahlen darf. Das führte alsbald dazu, dass kein privates Kapital mehr nach Deutschland floss. Mit dem Dawes-Plan blieb die Erstrangigkeit der Reparationen zwar in Kraft, man umging sie aber mit einem Trick: Beim Umtausch in eine andere Währung als Reichsmark wurden private Auslandsgläubiger nun bevorzugt bedient. Ein solcher sogenannter Transfer- oder Investorenschutz ist international durchaus üblich. Praktisch bedeutete er aber, dass private Kredite aus dem Ausland nun durch öffentliche Gelder aus dem Ausland besichert waren. Das setzte einen enormen Anreiz für die Kreditvergabe nach Deutschland: Private Kreditgeber konnten sich über hohe Zinsen freuen, trugen aber kaum ein Risiko.
Die Folge?
Albrecht Ritschl: Bald wuchs der Schuldenberg so sehr an, dass auch die privaten Gläubiger Zweifel hatten, ob ihre Schuldner in Deutschland das Geld würden zurückzahlen können und im Krisenfall der Transferschutz glaubwürdig wäre. Das führte ab 1929 erneut in die Krise. Deutschland tanzte auf einem Vulkan, wie es Reichsaußenminister Gustav Stresemann 1929 formulierte.
Wie die Alliierten der Weimarer Republik halfen
📈 Der Absturz: Die Deutschen waren im Frühjahr 1924 ein gebeuteltes Volk. 1914 hatte das Kaiserreich noch siegesgewiss den Ersten Weltkrieg (mit) angezettelt, doch 1918 folgte die bedingungslose Kapitulation. 1923 dann die Hyperinflation, alltägliche Güter kosteten astronomische Summen. Dazu kam die hohe Last der Reparationszahlungen als Wiedergutmachung für die Angriffskriege 1914 an die Siegerstaaten des Krieges.
💰 Der Dawes-Plan: Unter Leitung des amerikanischen Bankers und Politikers Charles Dawes legte eine Kommission am 9. April 1924 einen Plan vor, demzufolge Deutschland nur noch so viel zahlen sollte, wie es volkswirtschaftlich verkraftete: eine jährliche Zahlung von 2,5 Milliarden Reichsmark, aber erst ab 1929. Bis dahin sollte die Last langsam anwachsen. Zugleich musste Deutschland die Reichsbahn für 800 Millionen Goldbank verpfänden und die Reichsbank unter internationale Kontrolle stellen.
💸 Hoher Kapitalzufluss: Der Plan sah einen sogenannten Transferschutz vor: Private Kredite aus dem Ausland wurden abgesichert, die Reichsbank durfte Devisen für sie vorrangig vor den Reparationszahlungen nutzen. Das führte zu hohen Zuflüssen an ausländischen Krediten.
Warum haben die Deutschen das Spiel mitgemacht und nicht einfach entsprechend weniger Kredite aufgenommen?
Albrecht Ritschl: Die Deutschen wussten genau, dass der Boom auf Pump nicht nachhaltig ist, aber es interessierte sie nicht sonderlich. Man wollte die Reparationen ja ohnehin nicht bezahlen. Nach dem Dawes-Plan stiegen die Höhe jährlichen Reparationsleistungen bis 1929 stufenweise. Deutschland hatte also letztlich fünf Jahre Zeit gekauft. Immerhin kämpfte die Reichsbank unter der ersten Präsidentschaft von Hjalmar Schacht für einen Schuldendeckel auf Auslandskredite von Ländern und Gemeinden, also eine Art Schuldenbremse, allerdings weitgehend ohne Erfolg.
War der Dawes-Plan also von Anfang an zum Scheitern verurteilt?
Albrecht Ritschl: Er hätte funktionieren können, wenn die Weltkonjunktur nach 1928 weiterhin gebrummt hätte. Aber so löste 1929 der Young-Plan den Dawes-Plan ab, und nun bekamen die Deutschen die Rechnung präsentiert. Es gab nur geringe Abschläge auf die Reparationslast. Vor allem aber waren die Zahlungen jetzt vorrangig zu leisten: dem schönen System des Transferschutzes zum Nachteil der Reparationsgläubiger wurde ein Riegel vorgeschoben. Ab jetzt wurde es zunehmend wahrscheinlich, dass es in Deutschland eine sehr große Zahlungsbilanzkrise geben würde. Staat und Banken hatten in fünf Jahren Auslandsschulden in Höhe von etwa 40 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung angehäuft. Das machte Deutschland zum damals weltgrößten Kapitalimporteur. Direkt oder über Umwege kamen diese Kredite aus den USA. Zu diesen kommerziellen Auslandsschulden kam nochmals dieselbe, jetzt erstrangige Belastung durch die Reparationen des Young-Plans. Exportüberschüsse gab es nicht.
Sie sprechen davon, dass sich Deutschland ab 1930 in einer Finanzkrise befand. Ist das vergleichbar mit der Situation Griechenlands nach 2010?
Albrecht Ritschl: Deutschland hat von 1929 bis zur Finanzkrise 1931 ein ähnliches Szenario erlebt wie Griechenland in der Eurokrise. In beiden Ländern folgte nach dem Eintritt der Krise eine Deflations- und Austeritätspolitik. Sie ist in mancher Hinsicht vergleichbar, wenngleich sie in Deutschland am Ende deutlich drastischer ausfiel. Der große Unterschied war das Nebeneinander von Reparationen und kommerziellen Auslandschulden in Deutschland. Griechenland hingegen war vor allem auf den Kapitalmärkten und beim Bankensektor verschuldet.
Griechenland hat während der europäischen Finanzkrise nur Geld von den europäischen Staaten bekommen, wenn es harte Reformen durchführte. Beispielsweise wurden Löhne und Renten teils massiv gekürzt. War das 1924 auch für Deutschland eine Bedingung, um internationale Kredite zu bekommen?
Albrecht Ritschl: Solche Forderungen wurden erhoben, aber erst unter dem Young-Plan ab 1930 durchgesetzt. Reichskanzler Heinrich Brüning lief am Gängelband der Zentralbanken Englands, Frankreichs und der USA - durchaus ähnlich wie die Griechen in der Eurokrise an der kurzen Leine der EZB.
Welche Rolle spielte der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse, also die Weltwirtschaftskrise?
Albrecht Ritschl: Den Schwarzen Freitag gab es an der Berliner Börse schon am 13. Mai 1927, also knapp zweieinhalb Jahre vor dem Börsenkrach in New York. Seitdem rutschten die Kurse. Deswegen sprechen wir in Deutschland noch heute vom Schwarzen Freitag, während man in Amerika von Black Thursday und Black Tuesday spricht, wenn man sich an 1929 erinnert. Schon im Mai 1929 war die Emission einer Reichsanleihe am Berliner Markt, die sogenannte Hilferding-Anleihe, krachend gescheitert. Seitdem herrschte in Deutschland Deflationspolitik, diktiert von der Reichsbank und ausgeführt von Rudolf Hilferding, dem SPD-Finanzminister. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht drängte ihn gegen Jahresende 1929 aus dem Amt, um einige Wochen später selbst zurückzutreten. Deutschland wäre wahrscheinlich auch ohne Weltwirtschaftskrise in eine Schuldenkrise geraten. Nur ein fortgesetztes starkes Wachstum der Exporteinnahmen hätte Deutschland in die Lage versetzt, seine Auslandsverbindlichkeiten aus Überschüssen zu bestreiten. Vielleicht war die Situation in Deutschland sogar ein Mitauslöser der globalen Krise. Schließlich war Deutschland 1929 immer noch die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Man stelle sich vor, heute würde eine Wirtschaftsnation wie Japan zahlungsunfähig. Das gibt eine Vorstellung von Deutschlands Weg in den Zahlungsausfall ab 1929.
Musste der Dawes-Plan also scheitern und in die Krise führen?
Albrecht Ritschl: Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es der Wirtschaft in Westdeutschland ab 1951 auf Dauer jene Exportüberschüsse zu erwirtschaften, die es ab den 1920er Jahren gebraucht hätte, um die Verbindlichkeiten gegenüber ausländischen Gläubigern zu erfüllen. Wir sprechen hier von zwei bis drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In den 1950er und 1960er Jahren lieferte Deutschland beispielsweise VW-Käfer in die ganze Welt. Aus ökonomischer Sicht ist das vergleichbar mit Sachleistungen zur Tilgung von Reparationspflichten. Der Unterschied liegt in den Eigentumsrechten an den Kapitalpositionen, die aus der Ausfuhr von Sachleistungen folgen, deren Rückzahlung von Westdeutschland bis heute aber nie eingefordert worden ist. Dass die Alliierten Deutschland nach 1945 entschuldeten, war vermutlich entscheidend, setzte die richtigen Anreize. Bei diesen Entscheidungen spielten die negativen Erfahrungen mit Amerikas unglückseliger Dollardiplomatie der 1920er Jahre ihre Rolle.
Wie hätte die Reichsregierung auf die Kapitalzuflüsse reagieren und die Blase vermeiden können?
Albrecht Ritschl: Die Geldströme, die zwischen 1924 und 1928 nach Deutschland flossen, waren weit höher als die Reparationszahlungen unter dem Dawes-Plan. Ein Großteil ging an die Länder und Kommunen: U-Bahnen, kommunaler Wohnungsbau, Sportstadien, Schwimmhallen und die vierspurige Schnellstraße von Köln nach Bonn, die heutige BAB 555, die der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer unter anderem mit amerikanischen Geldern bauen ließ. Die notorische Geldknappheit von Ländern und Gemeinden war eine Folge des zentralistierten Finanzsystems der Erzbergerschen Steuerreform von 1920.
Liegt im Dawes-Plan der Ausgangspunkt für die harte Deflationspolitik von Reichskanzler Brüning ab 1930, die zum Aufstieg der Nationalsozialisten beitrug?
Albrecht Ritschl: Diese Frage führt zur sogenannten Zwangslagenthese, die der Ökonom und Wirtschaftshistoriker Knut Borchardt vertreten hat. Demnach hatte Brüning kaum eine andere Wahl, als Staatsausgaben massiv zu kürzen und Steuern zu erhöhen, um den Haushalt auszugleichen angesichts der hohen Auslandsschulden, nachdem keine neuen Kredite mehr aus dem Ausland flossen. Die Alternative wäre gewesen, auf die eine oder andere Weise aus dem Young-Plan auszusteigen. Das war der Plan Schachts, seit 1930 Privatmann auf dem Weg zur extremen Rechten. Die Regierung Brüning versuchte, dasselbe auf dem Verhandlungswege und durch Wohlverhalten gegenüber England und den USA zu erreichen. Das schloss die Abwertung der Reichsmark politisch aus, nicht zuletzt weil Reparationen und Auslandsschulden in Goldmark zu zahlen waren und das Ausland die deutschen Währungsmanipulationen während der Hyperinflation noch im Gedächtnis hatte.
Handelte Brüning alternativlos?
Albrecht Ritschl: Er hätte auch den Forderungen der extremen rechten und linken Parteien folgen können, die forderten, Reparationen und Auslandsschulden einfach nicht zu zahlen. So lautete nach 2010 in Griechenland auch der Vorschlag des damaligen Finanzministers Yanis Varoufakis.
Hätte Brünings Sparpolitik Erfolg gehabt, wenn Reichspräsident Hindenburg ihn 1932 nicht entlassen hätte?
Albrecht Ritschl: Die Legislaturperiode lief eigentlich bis September 1934. Es gelang Brüning in Vorbereitung der Konferenz von Lausanne im Juni 1932, die Alliierten dazu zu bewegen, auf weitere Reparationszahlungen weitgehend zu verzichten. Diesen Verhandlungserfolg fuhr aber sein Nachfolger ein, der sonst glücklos und autoritär regierende Franz von Papen. Unmittelbar nach der Lausanner Konferenz sprangen die wichtigen Konjunkturindikatoren wieder nach oben. Davon profitierte dann ab 1933 Hitler, der in den begonnenen Wirtschaftsaufschwung 1933 hinein an die Macht kam.
Deutschnationale und völkische Gruppierungen bezeichneten den Dawes-Plan als "zweites Versailles", von einer "Versklavung" des deutschen Volks war die Rede. Lässt sich das angesichts der Reparationslast nachvollziehen?
Albrecht Ritschl: Das ist tatsächlich falsch. Der Dawes-Plan bestand im Wesentlichen aus einer Stundung der Reparationspflichten und einem Kredithebel. Er erlaubte den Deutschen, ihre Leistungen für fünf Jahre auf die lange Bank zu schieben. Tatsächlich haben im wesentlichen die USA den kurzlebigen deutschen Wiederaufschwung finanziert.
Neben dem Dawes-Plan gilt auch die Rentenmark als ein wesentlicher Faktor für die wirtschaftliche Stabilität Mitte der 1920er Jahre. Welchen Beitrag hat diese an Grund und Boden gekoppelten Währung im Vergleich zum Dawes-Plan geleistet?
Albrecht Ritschl: Die Rentenmark sollte als Anker für die Währung dienen. Die Reichsbank konnte die Mark nicht mehr ohne die Gefahr eines großen deflationären Schocks an das Gold binden, weil sie dafür zu geringe Goldbestände hatte. Also wurde mit der Rentenmark ein neues Geld emittiert, das anders als die Papiermark nicht beliebig vermehrt werden konnte, weil es über Grundschulden an Immobilienwerte gebunden war. Ob die Rückkehr zum Gold und der Dawes-Plan allein zum Erfolg geführt hätten, wenn nicht zugleich diese besondere Währungsreform stattgefunden hätte, kann man bezweifeln. Die Zeitgenossen jedenfalls haben sich darüber gestritten wie die Kesselflicker.