Deutsche Literaturlegende : Das Rätsel Erich Kästner
Tobias Lehmkuhl geht der Frage nach, warum der Erfolgsautor Deutschland 1933 trotz seiner Ablehnung gegenüber den Nazis nicht verließ.
Thomas Mann, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky, Stefan Zweig, Erich Maria Remarque, Anna Seghers, Carl Zuckmayer - diese Schriftsteller und Schriftstellerinnen und viele, viele mehr gingen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in die Emigration. Erich Kästner nicht.
Warum der Erfolgsautor ("Emil und die Detektive", "Anton und Pünktchen", "Das fliegende Klassenzimmer") sich entschied, in Nazi-Deutschland zu bleiben, das ist die Frage, die Tobias Lehmkuhl auf Spurensuche gehen ließ. Das ist das Rätsel, das auch nach der Lektüre von dessen lesenswertem Buch "Der doppelte Erich" nicht gelöst ist, aber doch wohl einer Lösung so nahe kommt, wie es eben geht, wenn man niemanden mehr fragen kann. Kästner blieb - dabei kann es an seiner Haltung zum Regime keinen Zweifel geben: Er hatte ein Spottgedicht über Hitler geschrieben, sich in seinem Roman "Fabian" über das Fußvolk der NSDAP lustig gemacht, galt als links, war Antimilitarist und allein schon deswegen den Nazis ein Dorn im Auge. Kästner blieb nicht nur, er schrieb auch weiter, publizierte im Ausland. Die Gründe für den Entschluss "waren vielfältig und komplex", schreibt Lehmkuhl. Er sucht, mutmaßt, fragt (könnte es so gewesen sein?), um Fairness bemüht, keinem vorgefassten Urteil folgend, nähert er sich Gründen und Begründungen, prüft sie auf Wahrscheinlichkeit und Plausibilität, benennt Widersprüchliches. Weder verurteilt Lehmkuhl noch schont er Kästner.
Wie hätte man sich selbst verhalten?
Drei Punkte sind es vor allem, die Lehmkuhl aufgreift. Da ist zum einen das sehr spezielle Verhältnis zur Mutter, der er bis zum ihrem Lebensende täglich einen (Liebes-)Brief schrieb, für die er sorgte, die er in jüngeren Jahren mehrmals davon hatte abhalten müssen, sich das Leben zu nehmen. Für die er sich verantwortlich fühlt, um die er sich sorgt. Auch monetär.
Da ist denn auch zum anderen die Notwendigkeit, Geld zu verdienen. Kästner war im Jahr der Machtergreifung 34 Jahre jung, auf dem Höhepunkt seines Ruhms - und es fiel ihm, wie Lehmkuhl vermutet, "sicherlich schwer, mit einem Schlag aufzugeben, was er sich in den letzten fünf Jahren aufgebaut hatte". Zumal er sich als nicht dezidiert politischer Autor weniger persönlich gefährdet sah als andere.
Und da ist Kästners Selbstaussage aus dem Jahr 1933, dass er in Deutschland bleiben wolle, um Augenzeuge zu sein und den Roman der Nazidiktatur zu schreiben. Dann frage man sich, schreibt Lehmkuhl, "wieso dieser Augenzeuge bis 1941 kein Tagebuch geführt und sich, soweit wir wissen, auch sonst keine Notizen" für einen Roman gemacht hat." Auch das will der Autor nicht als Vorwurf verstanden wissen: Wer Kästner unterstellen wolle, dass er sich hier und da duckte und anbiederte, dass er sich durchlavierte durch die Zeit des Nationalsozialismus und auf die
Position des Beobachters zurückzog, statt in irgendeiner Form aktiv zu werden und für die eigenen Überzeugungen mehr zu tun, als öffentlich und ohne Angst zu zeigen, Kaffeezu trinken, der müsse sich fragen, wie er sich selbst in seiner Situation verhalten hätte, auch ohne Mutter-Komplex, ob er sich selbst auf den Opernplatz gestellt hätte, während die eigenen Werke unter Gebrüll abgefackelt wurden, ob er nicht lieber geflohen wäre, wie ja viele geflohen sind, so Lehmkuhl.
Tobias Lehmkuhl:
Der doppelte Erich
Kästner im Dritten Reich.
Rowohlt Berlin
Berlin 2023
304 Seiten, 24,00 €