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Herrschaftsbiografie vorgelegt : Der rote Machiavellist ohne Skrupel

Im abschließenden Teil seiner monumentalen Ulbricht-Biografie zeichnet Ilko-Sascha Kowalczuk das Bild eines machtbewussten Taktierers.

13.06.2024
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4 Min

War Walter Ulbricht ein eigenständiger kommunistischer Diktator? Oder war er nur eine Marionette Moskaus, die sich führen ließ, um führen zu können? Hält man den zweiten Band der bislang kenntnisreichsten und abgewogensten Biografie des "Spitzbarts" von Ilko-Sascha Kowalczuk in den Händen ergibt sich ein ebenso differenziertes wie klar konturiertes Bild des DDR-Staatsratsvorsitzenden.

Erst mit seiner Rückkehr aus dem Moskauer Exil unmittelbar nach Kriegsende sollte sich herausstellen, was er machtpolitisch umzusetzen gedachte und imstande war. Ohne die Implementierung, Schützenhilfe und Legitimation durch Stalin hätte er weder die DDR aufbauen noch sie über Jahrzehnte beherrschen können. Er ist den Direktiven aus der Sowjetunion zwar meist brav gefolgt, hat sich aber selten gescheut, seine eigenen Pläne anzugehen und durchzusetzen. Und diese waren in erster Linie darauf ausgerichtet, eine möglichst unangefochtene Machtstellung zu erringen, sie auszubauen und mit allen Mitteln zu verteidigen.

Foto: picture alliance/akg-images

Walter Ulbricht redet auf dem VI. Parteitag der SED vom 15. Januar bis 21. Januar 1963 in Ost-Berlin. Links hinter ihm sitzt der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow.

Genau davon handelt im Kern der abschließende Teil dieser monumentalen Herrschaftsbiografie. War der erste Band noch sehr darauf konzentriert, die persönliche und politische Entwicklung und Prägung Ulbrichts zum Kommunisten zu analysieren, geht es nun verstärkt darum, welchen Einfluss er bei den zentralen Ereignissen und Entscheidungen in der DDR-Geschichte hatte. Von der Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED 1946 sowie der Staatsgründung im Oktober 1949 über den Aufstand vom 17. Juni 1953 und den Mauerbau 1961 und die vollständige Entfaltung und Sicherung seiner Macht in den 1960er Jahren bis zur Wachablösung durch Erich Honecker 1971.

Verhasst bei vielen Parteigenossen und in der Bevölkerung

Erstaunlich ist immer wieder, dass er sich seiner machtpolitischen Stellung in Partei und Staat über die ersten Jahre hinweg nicht sicher sein konnte, er bei vielen Parteigenossen und der Bevölkerung verhasst war und er auch gut hätte scheitern können. Insbesondere während der Unruhen von 1953, als er mit den Worten "Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille" angegriffen wurde.

Kowalczuk entfaltet Ulbrichts Politkarriere in all ihren charakterlichen und gesellschaftlichen Dimensionen. Sei es bei der Zwangskollektivierung, der Planwirtschaft, der sozialistischen Kulturpolitik, seiner auf staatliche Souveränität setzenden Deutschlandpolitik oder seiner vom Kalten Krieg gespeisten Militär- und Geheimdienstpolitik. Es wird sehr deutlich, dass Ulbricht seine politisch-ideologischen Grundsätze nie verließ, aber sie als Realpolitiker immer wieder an neue Bedingungen anpasste. Er war ein Machiavellist, der kaum moralische Skrupel kannte und entsprechend mit Opposition jeder Art umging.


„Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille.“
Parole der Demonstranten vom 17. Juni 1953

Kowalczuk wartet beständig mit der Beschreibung, Analyse und Interpretation zentraler politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen und Entwicklungen auf, die Ulbricht maßgeblich beeinflusst oder gar bestimmt hat. Es bleibt jedoch immer wieder zu fragen, wie unumschränkt sein Handlungsspielraum dabei wirklich war. Bisweilen vernachlässigt er auch die systemimmanenten Faktoren des Sozialismus, die nicht selten im Widerspruch zu Ulbrichts Handeln und Denken standen. Darunter litt bisweilen auch die Glaubwürdigkeit seiner Politik. Das machte sich vor allem nach dem Tode Stalins 1953 bemerkbar, als sich der Wind in der Sowjetunion drehte und Ulbricht Erklärungen für die bisweilen nur oberflächliche Abkehr vom bisherigen Kult und Terror finden musste. Im Gegensatz zu seinen "Lehrjahren" in der Weimarer Republik und der NS-Zeit war er nun in der politischen Verantwortung und hatte viel mehr als früher zu verlieren.

Kowalczuk zeichnet alle Facetten von Ulbrichts Persönlichkeit und Politik nach

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Dennoch erklärt Kowalczuk souverän, wie geschickt Ulbricht immer wieder taktierte, im Gegensatz zu seinem späteren Nachfolger Honecker den Konflikt mit inneren und äußeren Gegnern nicht scheute, bewusst die Halbwahrheit sagte und log, um seine machtpolitischen Ziele zu erreichen und zu sichern. Dies lässt sich von der Gründung der SED über den Bau der Mauer bis hin zu den unruhigen Jahren Ende der 1960er Jahre nachverfolgen. Dabei wird auch nicht der kleinste Aspekt seiner Herrschaftssicherung und seines Machtstrebens außer Acht gelassen. Akribisch geht Kowalczuk allen Facetten von Ulbrichts Persönlichkeit und Politik nach, so dass erstmals eine umfassende Biografie des "kommunistischen Diktators" vorliegt.

Auch wenn der Autor betont, keine "als Biographie verbrämte SBZ/DDR-Gesamtgeschichte zu schreiben", so lässt sich dieser ehrgeizige lebensgeschichtliche "Rundumschlag" doch auch als eine solche lesen. Zum einen weil Ulbricht in alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens der DDR hineinregierte. Zum anderen weil Kowalczuk es konzeptionell, sprachlich und fachlich bestens versteht, Ulbrichts autoritäres Wirken in die allgemeine Zeit- und DDR-Geschichte einzubinden. Man hat nicht ohne Grund das Gefühl, dass der Autor mit seiner historischen Arbeit uns nicht nur Ulbricht wieder ins Bewusstsein rufen, sondern sich auch selbst ein kleines Denkmal setzen wollte.


Ilko-Sascha Kowalczuk:
Walter Ulbricht.
Der kommunistische Diktator.
C.H.Beck,
München 2024;
956 Seiten, 58,00 €