Biografie über Willy Brandt : Kanzler der Entspannung
Gunter Hofmann sieht manche Parallele zwischen den damaligen Attacken gegen Brandts Ostpolitik und der jüngeren Kritik am Verhältnis Deutschlands zu Russland.
War die Entspannungspolitik Willy Brandts der Beginn eines Irrwegs, der mehr als 50 Jahre später zum Überfall von Putins Russland auf die Ukraine führte? Als der langjährige "Zeit"-Journalist Gunter Hofmann damit begann, seine Biografie über den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik zu schreiben, ahnte er noch nicht, dass sich bei Erscheinen des Buches im Frühjahr 2023 wieder sehr kritische Fragen zur Politik Willy Brandts stellen würden. Sein Vermächtnis, so schreibt Hofmann, "steht unvermittelt neu zur Debatte".
Politik gegenüber Russland
Daher hat er seinem Buch noch ein Kapitel mit der Überschrift "Flaschenpost: Ostpolitik" hinzugefügt, in dem er die aktuelle Debatte um die deutsche Russland-Politik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte rekapituliert. Hofmann sieht manche Parallele zwischen den damaligen Attacken gegen Brandts Ostpolitik und der jüngeren Kritik am Verhältnis Deutschlands zu Russland. "Brandts Russlandpolitik war nicht blauäugig", nimmt er Brandt gegen Vorwürfe etwa des Yale-Historikers Timothy Snyder in Schutz. "Es handelte sich auch nicht um Appeasement. Derart missverstehen kann man ihn nur, wenn man die Geschichte der Ostpolitik seit den frühen siebziger Jahren aus ihrem historischen Kontext löst."
Tatsächlich gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen der eher defensiven, auf Machtsicherung gerichteten Politik der Sowjetunion seit Mitte der 1960er Jahre und dem aggressiven Revisionismus von Putins Russland. Auch beim damals so umstrittenen Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete stand Brandt eindeutig auf der richtigen Seite der Geschichte. Kein politisches Lager in Deutschland stellt dies heute mehr infrage. Eher gnädig urteilt Hofmann allerdings auch über die problematische Distanz, die Brandt und andere führende SPD-Politiker in den 1980er Jahren zur Solidarnosc und anderen Oppositionsbewegungen im Machtbereich der Sowjetunion hielten.
Keine Biografie im klassischen Sinn
Aus seiner großen Sympathie für Brandt, den er als Journalist immer wieder getroffen hat, macht Hofmann kein Hehl: In dem Buch gehe es um "meinen Brandt". Schade ist allerdings, dass er kaum von unmittelbaren Eindrücken aus seinen Begegnungen mit dem langjährigen SPD-Vorsitzenden berichtet. Generell tritt der Mensch Willy Brandt in Hofmanns Buch stark hinter den Politiker zurück. Hofmann hat keine Biografie im klassischen Sinne geschrieben - Biografien gibt es über den Kanzler der Jahre 1969 bis 1974 auch schon in Fülle. Sein Buch ist eher eine Sammlung von Essays, die um Themen und persönliche Beziehungen kreisen, die in Brandts Leben wichtig waren: Brandt und das Exil, Brandt und Günter Grass, Brandt und die deutsche Einheit. Häufig springt Hofmann zwischen verschiedenen Zeiten, was reizvoll ist, aber beim Lesen auch viel Konzentration erfordert.
Verhältnis zu Herbert Wehner
Besonders gelungen ist das Kapitel über das Verhältnis zum legendären SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner. Einfühlsam beschreibt Hofmann, wie sehr die beiden SPD-Granden auch als Spitzenpolitiker in der Bundesrepublik von ihren Erfahrungen im Exil geprägt waren, Brandt im demokratisch geprägten Skandinavien, Wehner in der stalinistischen Sowjetunion. Als er sich nach der Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume im Frühjahr 1974 vom Fraktionschef nicht genug unterstützt fühlte, habe Brandt in Wehner plötzlich wieder den "ewigen Kommunisten" gesehen, der gnadenlos auch Freunde und Weggefährten opferte. "Ausgerechnet Brandt, der solche Nachreden hasste, war zu dieser Überzeugung gelangt."
Deutlich wird bei der Lektüre, wie sehr sich in der Bundesrepublik seit Brandts Zeiten die Wertvorstellungen geändert haben. Die polemischen Vorwürfe, die ihm politische Gegner und konservative Medien wegen seiner unehelichen Herkunft und seiner Zeit im Exil gemacht haben, würden heute bei kaum noch jemandem verfangen - im Gegenteil. Unter Berufung auf eine Dokumentation des TV-Senders Arte berichtet Hofmann von einem bezeichnenden Deal zwischen Brandt und Konrad Adenauers damaligem Kanzleramtschef Hans Globke. Danach verzichtete die SPD im Bundestagswahlkampf 1961 darauf, an Globkes Nazi-Vergangenheit als Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze zu erinnern, während es die CDU im Gegenzug unterließ, Brandt als "vaterlandslosen Gesellen" zu diffamieren. Dass Brandt zu einer solchen Abmachung bereit gewesen sein könnte, hält Hofmann für plausibel. Nur zu gut habe er gewusst, "wie leicht selbst in seiner eigenen Berliner Partei Ressentiments gegen ihn unter Hinweis auf die zwölf Jahre in Skandinavien und die norwegische Staatsbürgerschaft mobilisiert werden konnten".
Zurecht betont Hofmann, dass Brandt Patriot war und seine Ostpolitik mit dem patriotischen Ziel betrieb, das Leben der Deutschen unter den Bedingungen der Teilung zu verbessern. Als dann 1989 die Mauer fiel, erkannte er die Zeichen der Zeit und unterstützte die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. In der SPD machte er sich damit nicht nur Freunde.
Gunter Hofmann:
Willy Brandt.
Sozialist - Kanzler - Patriot. Eine Biographie.
C.H. Beck,
München 2023,
517 S., 35,00 €