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9. November : Zeit, sich dem Datum in all seiner Widersprüchlichkeit zu stellen

Mit dem Datum sind die Ausrufung der ersten Republik, die Reichspogromnacht und der Mauerfall verbunden. Bundespräsident Steinmeier hat nach Bellevue eingeladen.

15.11.2021
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2 Min
Foto: picture-alliance/Flashpic/Jens Krick

Bundespräsident Steinmeier (l.) hatte zum Gedenken an den 9. November ins Schloss Bellevue eingeladen. Die Gastredner Emilia Fester (Grüne), Margot Friedländer und Roland Jahn (v. o. n. u.) teilten Gedanken und persönliche Erlebnisse.

"Wir wussten, dass ist der Anfang von viel Schlimmeren, das noch kommen wird", beendet Margot Friedländer ihren Zeitzeugenbericht über den 9. November 1938. Von geplünderten Geschäften und der Angst in den Augen ihres Bruders berichtet Friedländer, die vor wenigen Tagen ihren einhundertsten Geburtstag feierte. Ihre gesamte Familie ist dem Holocaust zum Opfer gefallen, sie selbst überlebte und emigrierte in die USA. Erst vor wenigen Jahren kam die gebürtige Berlinerin zurück nach Deutschland. An diesem Vormittag spricht sie als eine von drei Gastrednern.

Unter dem Titel "1918 - 1938 - 1989: Gedenken zum 9. November" lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu einer Veranstaltung auf Schloss Bellevue ein. Die Ausrufung der Republik, die Reichspogromnacht und der Mauerfall - alle drei Ereignisse fielen auf einen 9. November. Dass dieses Datum, wie Steinmeier hervorhob, nicht nur die dunkelsten, sondern auch die hellsten Tage der deutschen Geschichte in sich vereint, davon zeugten die anderen beiden Beiträge an diesem Vormittag.

Scheidemann ruft 1918 die deutsche Republik aus

Emilia Fester (Bündnis 90/Die Grünen), mit 23 Jahren die jüngste Abgeordnete des Bundestages, verlas die Worte Philip Scheidemanns, der 1918 auf dem Balkon des Reichstagsgebäudes die deutsche Republik ausgerufen hatte. Für freie Meinungsäußerung, Frauenwahlrechte und eine demokratische Vertretung seien die Menschen damals auf die Straße gegangen. Auch heute sei der Kampf um Mitgestaltung noch lange nicht vorbei, so Fester. "Es ist jetzt an uns, den Aufbruch von 1918 mitzunehmen in unsere Zeit, für eine Zukunft für alle".


„Was kann, was darf ein Tag uns bedeuten, an dem Freude und Leid, Aufbruch und Abgrund, so jäh aufeinandertreffen?“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Vor 32 Jahren war es wieder ein 9. November, an dem dieses Land einen neuen Weg einschlug. Roland Jahn, ehemaliger Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, beschrieb den Gästen, wie er den Abend des Mauerfalls damals erlebte. Gegen den Strom ging sein Weg am 9. November von West nach Ost zurück in seine Heimat Jena, die er seit seiner Ausbürgerung 1983 nicht mehr gesehen hatte. Der Mauerfall sei kein Geschenk des Himmels gewesen. "Der Mauerfall war das Ergebnis einer friedlichen Revolution von couragierten Menschen im Osten Deutschlands", so Jahn. Noch heute sei er ein Signal der Hoffnung für die Menschen, die in Diktaturen lebten.

9. November soll zum Nachdenken über Geschichte anregen

"Was kann, was darf ein Tag uns bedeuten, an dem Freude und Leid, Aufbruch und Abgrund, so jäh aufeinandertreffen?", fragte Steinmeier in seiner Rede. Bisher spiele der 9. November im öffentlichen Gedenken eine eher untergeordnete Rolle. Es sei jedoch an der Zeit, sich diesem Datum in all seiner Widersprüchlichkeit zu stellen.

Frühere Überlegungen, den Tag des Mauerfalls zum Feiertag zu machen, wurden 1990 wieder verworfen. Zu groß waren die Bedenken, dadurch die Gräueltaten der Reichspogromnacht zu verdrängen. Auch für Steinmeier ist es kein Feier- oder Schicksalstag. In seinen Augen ist der 9. November vielmehr ein "wertvoller Tag", der die Möglichkeit eröffne, nachzudenken über dieses Land und seine Geschichte - in all seiner Ambivalenz.