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Anthropozän : Der Mensch prägt den Planeten

Ob Klimawandel oder Artensterben - der Homo sapiens schreibt ein neues Kapitel der Erdgeschichte.

02.01.2023
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6 Min

Im Jahr 2023 werden Wissenschaftler einem Ort, den bisher noch kaum jemand kennt, zu Ruhm verhelfen: Dieser Ort könnte zum Beispiel auf dem Boden der Ostsee liegen, in einem polnischen Moor, in einem Vulkansee in China oder einem Korallenriff in der Karibik. Dort wollen Geologen einen großen goldfarbenen Nagel einschlagen und eine Tafel anbringen. Darauf soll dann stehen, was Ort und Nagel repräsentieren: nicht weniger als eine neue Erdepoche, das Anthropozän - benannt nach dem Einfluss des Menschen auf den Planeten.

Foto: picture-alliance/Avalon.red/Paulo de Oliveira

Schildkröten halten Plastiktüten für Quallen, Seevögel verenden an Handyteilen in ihrem Magen, Fische verwechseln Plastikteilchen mit Plankton.

Schulbuchwissen, dass wir im Holozän leben, das mit dem Ende der letzten Eiszeit vor rund 11.600 Jahren begann, wäre damit überholt. Lehrende weltweit würden fortan unterrichten, dass wir Menschen mit dem Klimawandel, der Ausrottung von Arten, synthetischen Chemikalien, neuartigen radioaktiven Elementen und der weltweiten Plastikverschmutzung so tief in die Biosphäre und die Gesteinswelt eingreifen und sie so langfristig verändern, dass wir damit ein neues Kapitel in der Erdgeschichte schreiben.

Am Anfang stand das Ozonloch

Vorgeschlagen hat eine neue Erdepoche namens Anthropozän im Jahr 2000 der Atmosphärenforscher und Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen. Der gebürtige Niederländer, der Anfang 2021 im Alter von 87 Jahren gestorben ist, hatte in den 1970er und 1980er Jahren einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, eine drohende Umweltkatastrophe abzuwenden. Crutzen zeigte, dass es synthetische Chemikalien gibt, die Löcher in jene Hülle fressen können, die unseren Planeten gegen kosmische Strahlung schützt und Leben an Land überhaupt erst möglich gemacht hat. Anschließend half Crutzen auf Ebene der Vereinten Nationen mit, dass die meisten der für das "Ozonloch" verantwortlichen Stoffe streng reguliert oder verboten wurden.


Portraitfoto Paul Crutzen
Foto: picture alliance/Karl Schöndorfer/picturedesk.com
„Wir leben nicht mehr im Holozän, wie leben im Anthropozän.“
Paul Crutzen, (1933-2021) Meterologe

"Wir hatten einfach Glück", sagte Crutzen später. Er malte sich oft im Kopf aus, was passiert wäre, wenn er und seine Kollegin nicht rechtzeitig auf die Gefahr hingewiesen hätten. Das war für den Wissenschaftler der Anstoß, immer länger werdende Listen anzulegen, wie wir Menschen Natur und Umwelt verändern.

Bei einer wissenschaftlichen Konferenz in Mexiko platzte es dann regelrecht aus ihm heraus: "Wir leben nicht mehr im Holozän, wie leben im Anthropozän", rief er zum Erstaunen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen bei einer Diskussion. Einige Jahre benutzten nur Wissenschaftler das neue Wort. Ab 2009 hat die Idee vom Anthropozän dann eine steile Karriere gemacht. Damals formierte sich ganz offiziell eine Gruppe von Geologen und anderen Forschern mit dem Ziel, nach allen Regeln der Geologie herauszufinden, ob es sich nur um eine Modeerscheinung handelt oder die wissenschaftliche Zeitrechnung wirklich um eine neue Epoche erweitert werden muss.

Internationale Stratigraphie-Kommission wacht über Einteilung der Erdgeschichte

Für diese Fragen gibt es eine eigene Institution. Die Internationale Stratigraphie-Kommission wacht über die Einteilung der mehr als vier Milliarden Jahre Erdgeschichte. Diesen "Hütern der Zeit" zufolge leben wir seit Beginn des Landlebens vor 538 Millionen Jahren in einem Äon namens Phanerozoikum, seit dem Aussterben der Dinosaurier vor 66 Millionen Jahren in der Ära des Känozoikum, seit dem Beginn der Eiszeit vor 2,58 Millionen Jahren in einer Periode namens Quartär und seit der natürlichen Erwärmung und dem Rückzug der eiszeitlichen Gletscher nun über knapp 12.000 Jahre in der Epoche des Holozän.

Vielen Menschen erscheint es abwegig, dass die Umweltveränderungen durch unsere Zivilisation auf der geologischen Zeitskala verzeichnet werden sollen. Bei vielen gibt es die Vorstellung, dass die Natur die Wunden, die der Mensch schlägt, schnell wieder heilen und in den Zustand davor zurückkehren könnte. Die "Anthropocene Working Group" (AWG), die im Auftrag der wissenschaftlichen "Hüter der Zeit" seit 2009 die Datenlage sondiert, spricht sich aber fast einstimmig für die offizielle Anerkennung der "Menschenepoche" aus. In zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen legen die Experten ihre Beweise vor. Der menschgemachte Klimawandel wird demnach die Erdgeschichte unweigerlich auf einen ganz anderen Kurs bringen, als es ohne CO2-Emissionen aus Schornsteinen, Auspuffen und brennenden Wäldern der Fall gewesen wäre. Das Artensterben und die massive Zunahme von Nutztieren wird den Fossilienbestand der Zukunft verändern. Nur noch wenige Prozent der Erdoberfläche bleiben vom Menschen unangetastet. Vor allem Metalle werden in riesigen Mengen aus der Erdkruste geholt und weltweit verteilt.

Ein langfristig messbarer "Marker" für das Anthropozän sind auch die radioaktiven Elemente, die in den 1940er und 1950er Jahren aus Atomtests und den Bombenabwürfen über Japan 1945, über Luftströmungen verteilt, weltweit als "Fallout" niedergegangen sind. Viele weitere Indizien bringen die AWG zu dem Schluss, dass ein hypothetischer Geologe auch in 100.000 oder zehn Millionen Jahren noch messen kann, dass in unserem Hier und Heute etwas Epochales im Gang war.

Was sind Holozän und Anthropozän?

Im Holozän ist die Natur allmächtig. Es ist die seit mehr als 11 000 Jahren andauernde warmzeitliche Epoche des Eiszeitalters, der die letzte Kaltzeit voranging. Es umfasst damit auch die Klimaänderungen der letzten 1000 Jahre und das Klima im 20. Jahrhundert.

Der Begriff "Anthropozän" bezeichnet ein neues geologisches Zeitalter, in dem die Menschheit den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem hat und daraus die Verantwortung des Menschen für die Zukunft des Planeten abgeleitet wird. 



Doch die Anthropozän-Idee hat auch außerhalb der Naturwissenschaft große Wirkung entfaltet. Philosophen, Historiker, Umweltbewegte, Künstler und Kulturinstitutionen beschäftigen sich intensiv mit dem Phänomen. Zu den Gründen zählt, dass das Anthropozän einen neuen und großen Denkrahmen für die oft getrennt diskutierten "Umweltprobleme" unserer Zeit schafft. Zudem überwindet es die vor allem im Westen tiefsitzende strikte Trennung von Natur und Kultur.

Menschenepoche als Summe aller Umweltprobleme oder Wegweiser zu Lösungen?

Das Anthropozän-Konzept gemeindet die historische "Geschichte" der Könige, Länder, und technischen Umbrüche in die ökologische Erdgeschichte der Berge, Bäume und Klimaveränderungen ein. Wenn selbst die seltenste Orchidee im Amazonas auch aus Kohlenstoff-Atomen besteht, die als CO2 mit der Luft aus Großstädten und Industriegebieten herangeweht wurden, verschwimmen die Grenzen von Natur und Kultur.

Das rührt an die Wurzeln des bisherigen Weltverständnisses auch der Wissenschaft. Das beste Beispiel ist die Geologie selbst. Sie hat bisher nur in die Vergangenheit geschaut und die zu Erdkruste und Gebirgen aufgetürmten Ergebnisse blinder Evolution betrachtet. Zudem hat sie fleißig bei der Ausbeutung von Rohstoffen mitgeholfen. Nun tritt der Mensch aber auf globaler Skala als geologischer Akteur in Erscheinung.

Der Blick richtet sich in die Zukunft: Wo soll das hinführen? Wie viel größer als bisher angenommen ist unsere Verantwortung, wenn wir Lebensbedingungen auf Jahrzehntausende determinieren? Ist die Menschenepoche nur die Summe aller Umweltprobleme - oder weist sie den Weg zu Lösungen, vielleicht sogar in ein "gutes Anthropozän"?

Solche Fragen haben auch im Deutschen Bundestag bereits eine Rolle gespielt. Das Wort "Anthropozän" ist vielfach in Protokollen vermerkt. Manchen Parlamentariern wird vielleicht gar nicht bewusst sein, dass sie bei der bevorstehenden Ausrufung des Anthropozäns eine aktive Rolle spielen. Seit 2012 schon fördert der Bundestag Aktivitäten des nahe gelegenen Haus der Kulturen der Welt (HKW) im Zusammenspiel mit der Max-Planck-Gesellschaft zum Anthropozän. Darüber werden seit vielen Jahren auch die Beratungen der Anthropocene Working Group ermöglicht.

Wer macht das Rennen?

Um ganz offiziell die Ausrufung des Anthropozäns zu beantragen und den nächsthöheren Instanzen die Beweise vorzulegen, fehlt nur noch ein Ort, der das Anthropozän mit einem eingeschlagenen "Goldenen Nagel" repräsentiert. So wie es einen Urmeter gibt und für jede Tierart ein "Typusexemplar" in einem Museum, braucht eine neue Erdepoche einen Referenzpunkt. Drei von zwölf Kandidaten, darunter eine Tropfsteinhöhle in Italien und der Karlsplatz in Wien, sind aus dem Rennen schon ausgeschieden. Neun Orte verbleiben, an denen Sedimente die Geschichte des Menschen erzählen. Einer wird 2023 ausgewählt.

Christian Schwägerl ist freier Wissenschaftsjournalist.