Johannes Vogel im Interview : "Die Liste der Sünden ist lang"
Der Berliner Museums-Generaldirektor zieht ein kritisches Fazit zur Weltnaturkonferenz - sieht aber Chancen.
Herr Vogel, knapp zwei Wochen haben rund 5.000 Delegierte aus fast 200 Ländern in Montreal getagt, gestritten und gerungen, 120 Minister wurden eingeflogen - und am Ende steht ein neues Artenschutzabkommen. War die 15. Weltnaturkonferenz ein Erfolg?
Johannes Vogel: Leider ist es nach wie vor so, dass die überragende Wichtigkeit des Themas in der Politik überhaupt nicht angekommen ist. Anders als beim Klimagipfel in Scharm el Scheich vor wenigen Wochen ist außer dem gastgebenden kanadischen Premier Trudeau kein einziges Staatsoberhaupt gekommen. Das ist kein gutes Zeichen. Denn hier geht es um den Ast, auf dem wir alle sitzen und an dem wir alle kräftig sägen. Wenn der bricht, dann ist es vorbei. Das ist noch nicht verstanden worden.
Johannes Vogel ist Professor für Biodiversität und Public Science an der HU, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften und Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin.
Warum ist das so?
Johannes Vogel: Als Menschen, so wie wir uns entwickelt haben in den letzten zwei Millionen Jahren, denken wir, dass die Natur - sei es das Klima, das Tier, die Pflanze, der Boden oder das Wasser - einfach da ist und wir sie nutzen können. Es fehlt das Bewusstsein, wie wertvoll eine funktionierende Natur für uns ist. Wir begreifen nicht, dass wir diese riesige Erde und die komplexe Natur so verändern, dass die Folgen für menschliches Leben dramatisch sein können.
Das neue Artenschutzabkommen definiert 23 Ziele...
Johannes Vogel: ... wir haben vor zwölf Jahren eine ähnliche Jubelveranstaltung in Japan gehabt mit zahlreichen Vereinbarungen, von denen keine einzige eingehalten wurde. Das darf uns nicht nochmal passieren.
Gibt es Anlass zu der Hoffnung, dass das nicht wieder passiert?
Johannes Vogel: Ja. Es gibt jetzt eine viel größere Aufmerksamkeit für das Thema. Klimawandel ist in den letzten Jahren parteienübergreifend zu einem Thema für die Politik geworden, weil es Wählerstimmen brachte. Ich glaube, dass Natur und Biodiversität in den nächsten Jahren einen ähnlichen Effekt auslösen werden.
In Montreal wurde hart ums Geld gestritten. Bundeskanzler Scholz hatte schon vor Konferenzbeginn angekündigt, Deutschlands Beitrag auf 1,5 Milliarden Euro jährlich verdoppeln zu wollen. Insgesamt gibt es nun Zusagen in Höhe von 20 Milliarden Euro für die armen Länder, in denen 80 Prozent der artenreichsten Regionen der Erde liegen. Das klingt nach viel Geld - aber reicht es?
Johannes Vogel: Das ist jede Menge Geld, keine Frage. Und es ist toll, dass die Bundesregierung hier international sichtbar vorwegmarschiert. Wir müssen das Geld aber in Relation setzen: Derzeit gibt die Welt mindestens 150-mal so viel Geld zur Zerstörung der Natur aus - 3,1 Billionen Dollar jährlich - wie sie in Montreal für den Naturschutz zugesagt hat.
Woran denken Sie dabei?
Johannes Vogel: Es werden zum Beispiel riesige Summen investiert, um nicht nachhaltige Landwirtschaft zu pushen, Wälder zu roden, Gewässer zu regulieren, unberührte Böden umzubrechen und nicht nachhaltige Fischerei. zu subventionieren. Europa ist hier tatkräftig dabei. Die Liste der Sünden ist lang. Das ist das eine. Das andere ist: Der deutsche Beitrag, 1,5 Milliarden Euro, entspricht gerademal den Kosten für sechs Wochen kostenlose Corona-Tests für die Bürger während der Pandemie. Corona insgesamt hat noch viel, viel mehr gekostet. Corona war eine Auswirkung des Klimawandels plus einer nicht nachhaltigen Nutzung von Natur: Der Klimawandel hat die Verbreitungsgebiete der Fledermäuse verschoben, und beim Wildtierhandel und -verzehr kam es zur Übertragung des Erregers. Ich würde sagen: Für uns als - kapitalistische - Gesellschaft würde es sich rechnen, in den Schutz von Natur zu investieren, anstatt im Nachhinein ein Vielfaches dafür zu bezahlen, dass wir nicht achtsam mit ihr umgegangen sind.
Das Naturkundemuseum befindet sich in Berlin Mitte.
Was muss die Politik konkret tun?
Johannes Vogel: Eine lebenswerte Zukunft wird vor allem von uns große Anstrengungen und ein Umdenken verlangen. Der Geldtransfer von Nord nach Süd ist das eine. Das andere ist: In Deutschland, Europa, in der ganzen nördlichen Hemisphäre müssen wir insgesamt sehr viel ressourcenschonender und bescheidener wirtschaften. Ich weiß nicht, wie der Schaden, der jetzt angerichtet wird, am Ende bezahlt werden soll. Wenn das so weitergeht, befürchte ich, hält unser Wirtschaftssystem und auch unsere Demokratie das nicht aus.
Als eines der wichtigsten Ergebnisse der Konferenz gilt die Vereinbarung mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen. Was ist davon zu halten?
Johannes Vogel: Lassen Sie uns einmal nicht über andere, sondern über Deutschland reden: Hier haben wir 18 Prozent der Landfläche unter verschiedenen Schutzstatus zusammengefasst. Nur für zwei Prozent gilt, dass man der Natur freien Lauf lässt. In den anderen 16 Prozent sind verschiedene Formen von Fischerei, land- oder forstwirtschaftlicher Nutzung möglich. Mit solchen Maßnahmen sind in den letzten Jahrzehnten 70 bis 85 Prozent der Biomasse von Insekten verloren gegangen - eine Hiobsbotschaft. Es zeigt, dass nur mit Schutzgebieten das Artensterben nicht reduziert oder aufgehalten werden kann. Alle Flächen und Meere der Welt müssen naturfreundlicher genutzt werden. Und das geht insbesondere, wenn wir unsere Ernährung umstellen.
Gibt es etwas, dass Sie hoffen lässt?
Johannes Vogel: Ja, unsere wissensbasierte Demokratie. Ich glaube, dass es ähnlich wie beim Klima-Thema neue, breite gesellschaftliche Strömungen und neue Koalitionen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft für ein verändertes Verhältnis von Mensch und Natur geben - und da am Ende auch die Politik mitgehen wird. Dafür könnte die Konferenz ein Startschuss gewesen sein. Wir haben in Montreal zum Beispiel das erste Mal gesehen, dass Business sich für das Thema Biodiversität interessiert. Wirtschaft und Finanzwirtschaft sehen voraus, dass es Regulierungen geben wird, Ziele, die zu erreichen, Gesetze, die einzuhalten sind - darauf bereitet man sich vor.
Welche Schritte sollte die Bundesregierung jetzt als nächstes gehen?
Johannes Vogel: Ich hätte eher einen Wunsch an das Parlament. Jetzt wäre doch die Zeit, dass der Bundestag eine Enquete-Kommission zum Thema einrichtet und Deutschland in den nächsten Jahren eine Debatte zum Thema führt. Ich war Co-Vorsitzender des Wissenschaftsjahres 2022 "Nachgefragt": Vier Fünftel aller 14.000 Fragen aus der Gesellschaft an die Wissenschaft drehten sich um die Themen Klima, Natur, Gesundheit, eben das übergeordnete Thema "Gesunder Mensch - Gesunder Planet". Dieses immense Interesse sollte das Parlament nutzen, um das Thema groß zu machen. Die Herausforderung ist auch als Chance für unsere Demokratie zu begreifen.
Inwiefern?
Johannes Vogel: Ich glaube, dass die globalen Großkrisen mit Blick auf Natur und Klima viel enger mit dem Überleben unserer Demokratie verknüpft sind, als die Politik sich eingestehen will.
Was ist das Artenschutzabkommen?
Das Washingtoner Artenschutzabkommen CITES reguliert seit 1975 den internationalen Handel mit wilden Tier- und Pflanzenarten. Ziel des Abkommens ist es, Gefahren für die Arten durch den internationalen Handel zu vermeiden. Eigentlich ein Handelsabkommen, ist CITES (Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora) eines der wichtigsten Instrumente im internationalen Artenschutz.
Die Bestände vieler wildlebender Tier- und Pflanzenarten sind durch den internationalen Handel bedroht. CITES wurde 1973 ins Leben gerufen, um dieser Gefahr zu begegnen. Das Abkommen . Für jene, um die es besonders schlecht steht, werden sogar Handelsverbote verhängt.
Deutschland ist dem Abkommen bereits 1976 beigetreten. Mittlerweile zählt CITES 183 Mitgliedsstaaten und etwa 5.600 Tier- und 30.000 Pflanzenarten sind aktuell in der Konvention unter Schutz gestellt. In einem Rhythmus von zwei bis drei Jahren treffen sich Delegationen der Vertragsstaaten, Handelsvertreter und NGOs auf der sogenannten CITES Cop (Conference of the Parties). Dort wird zwei Wochen lang über neue Schutzanträge, Veränderungen im Schutzstatus, aber auch über Resolutionen und Entscheidungen im Vollzug verhandelt.
Können Sie das erklären?
Johannes Vogel: Nur eine Gesellschaft, die zusammenhält, trägt in sich die Kraft, großen Herausforderungen zu trotzen - wie wir in der Ukraine gerade sehen. Auf der anderen Seite sehen wir auch, wie Corona unsere Gesellschaft verändert hat. Der Putschversuch sogenannter Querdenker und Reichsbürger zeigt das deutlich. Man kann also sehen, wie die wissensbasierte Bekämpfung einer Pandemie, die durch nicht nachhaltige Nutzung von Natur ausgelöst wurde, zu einer Radikalisierung eines Teils der Bevölkerung geführt hat und dann zu demokratiefeindlichen Aktionen. Was passiert erst, wenn Pandemien, Hitzejahre oder ausfallende Ernten zur Norm werden? Für mich ist deshalb eine nachhaltige Nutzung der Welt unmittelbar damit verbunden, dass wir ein gutes und demokratisches Leben führen können.