Unsicherheiten
NEUES Wahlrecht Nach der Bundestagswahl wird mit mehr Abgeordneten gerechnet. Das könnte wieder Reformdruck auslösen
Jenseits des Wahlausgangs und der Frage, welche Parteien die neue Bundesregierung bilden werden, hält der 22. September durch die kürzlich in Kraft getretene Änderung des Wahlrechts ein weiteres, eigentümliches Spannungsmoment bereit, nämlich die Größe des Deutschen Bundestages. Je nachdem, wie viele Überhang- und Ausgleichsmandate anfallen, könnten diesem deutlich mehr als die 598 Abgeordneten angehören, die das Gesetz vorschreibt. Die Parteien, die - mit Ausnahme der Linken - das neue Wahlrecht einvernehmlich beschlossen haben, blicken deshalb mit Sorge auf den Termin. Denn je stärker das Parlament "aufgebläht" wird, umso schwerer dürfte es ihnen fallen, den im Februar gefundenen Kompromiss vor der Öffentlichkeit zu verteidigen. Damit könnten Forderungen laut werden, das Wahlgesetz in der nächsten Legislaturperiode erneut zu ändern und zwar so, dass eine dauerhaft oder zumindest längerfristig tragfähige Lösung zustande kommt.
Dass es kein "perfektes" Wahlrecht gibt, ist eine Banalität. Schließlich verfolgen Wahlsysteme unterschiedliche Ziele, die nicht alle gleichzeitig erreichbar sind. Für die Bundesrepublik lassen sich jeweils drei Haupt- und drei Nebenziele unterscheiden. Hauptziele sind erstens die proportionale Repräsentation (Erfolgswertgleichheit der Stimmen), zweitens die Möglichkeit, mit oder neben der Wahl einer Partei zugleich eine Personenwahl zu treffen (Personalisierung), und drittens die Gewährleistung der Regierungs- bzw. Koalitionsbildung durch Vermeidung einer übermäßigen Zersplitterung des Parlaments (Sperrklausel). Zu den Nebenzielen gehören erstens die Wahrung des Regionalproporzes im Rahmen der territorialen Repräsentation, zweitens die Verständlichkeit des Wahlsystems und drittens die Gewährleistung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments.
Sperrklauseln gekippt
Die Vereinbarung dieser verschiedenen Ziele bereitete lange Zeit kein Problem. Einerseits sorgte die stabile Entwicklung des Parteiensystems für ebenso stabile Regierungen, indem sie die Koalitionsbildung erleichterte. Andererseits wurde das Prinzip der Erfolgswertgleichheit nicht über Gebühr verletzt, weil der Fünfprozenthürde nur relativ wenige Stimmen zum Opfer fielen und die Zahl der Überhangmandate überschaubar blieb. Erst mit der Pluralisierung der Parteienlandschaft sollten die Schwächen des Wahlrechts zum Vorschein kommen. Die Verfassungsgerichte in Bund und Ländern nahmen dies unter anderem zum Anlass, die Sperrklauseln auf der kommunalen Ebene und - später - bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zu kippen. Gleichzeitig gerieten die vermehrt auftretenden Überhangmandate unter Rechtfertigungszwang. Die Frage, wie diese im Zieldreieck von gleicher Repräsentation, Personalisierung und Mehrheitsbildung zu bewerten seien, wurde seit Mitte der neunziger Jahre zu einem Dauerthema der verfassungspolitischen und -rechtlichen Diskussion, die erst mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juli 2012 ein (vorläufiges?) Ende fand und die Einigung der Parteien auf die jetzt gültige Regelung ermöglichte.
Der argumentative Umgang des Gerichts mit den Überhangmandaten ist kurios. In Kontinuität zur früheren Rechtsprechung erklärt es diese auch im jüngsten Urteil nicht per se für verfassungswidrig, sondern erst, wenn sie in größerem Umfang anfallen. Dieser Umfang wird jetzt mit 15 Mandaten genau festgelegt. Dass eine solche Grenzziehung nicht nur willkürlich, sondern auch logisch unstimmig ist, liegt auf der Hand: 30 Überhangmandate, die sich gleichmäßig auf die beiden großen Parteien verteilen, verletzen den Gleichheitsgrundsatz weniger als 15 Mandate, die nur einer Seite zugute kommen! Das Gericht nahm die Unstimmigkeit in Kauf, um innerhalb des Senats einen Kompromiss zwischen den überhangfreundlichen und -skeptischen Kräften herbeizuführen. Indem es eine Konstellation wie beim berühmten Verfahren von 1997 vermied, als nur vier Richter das überhangfreundliche Urteil mitgetragen hatten, wollte es bewusst ein Zeichen setzen und die Parteien im Bundestag animieren, sich um einen Kompromiss zu bemühen.
Dieses Kalkül ist aufgegangen. Bewegt hat sich dabei in erster Linie die Union. Nach dem 2008 ergangenen Urteil zum negativen Stimmgewicht hatte die schwarz-gelbe Regierung ihre Mehrheit genutzt, um gegen den Willen der Opposition eine Wahlrechtsänderung durchzusetzen, die die Überhangmandate im Kern nicht antastete. Als das Gesetz in Karlsruhe erneut durchfiel, kam ein solches Vorgehen nicht mehr in Betracht. Die Union schwenkten auf die Linie von Sozialdemokraten und Grünen ein, die eine Neutralisierung der Überhangmandate anstrebten. Dafür gab und gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Entweder man verrechnet die Überhänge mit Listenmandaten derselben Partei in anderen Bundesländern oder man gleicht sie durch zusätzliche Mandate für die anderen Parteien aus.
Für die Verrechnungslösung optierten (neben der Linken) vor allem die Grünen, die von den Überhangmandaten ohnehin keinen Vorteil haben. Die beiden großen Parteien als deren potenzielle Nutznießer taten sich mit dem Vorschlag hingegen schwer, der auf eine Verschärfung der durch die Überhangmandate entstehenden föderalen Ungleichgewichte hinausgelaufen wäre: Die Landesverbände in Bundesland x hätten dann für Überhänge derselben Partei in Bundesland y "bluten" müssen. Die stattdessen gefundene Ausgleichslösung sieht vor, die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages soweit zu erhöhen, dass bei der bundesweiten Oberverteilung der Mandate an die Parteien und der Unterverteilung auf die Landeslisten alle Wahlkreismandate auf die Zweitstimmenmandate der Parteien angerechnet werden können. Das Stimmenverhältnis, das sich aufgrund der Zweitstimmen ergibt, wird dadurch wiederhergestellt. Um eine Inflationierung der Zusatzmandate zu vermeiden, ist allerdings nur ein parteipolitischer, kein föderaler Ausgleich geplant. Kritiker stoßen sich an der erwarteten Aufblähung des Bundestages durch die zusätzlichen Mandate. Drei "Risikofaktoren" für eine übermäßige Vergrößerung lassen sich ausmachen. Der erste Faktor betrifft die Überhangmandate. Je mehr Überhänge zugunsten einer der beiden großen Parteien anfallen, desto mehr Ausgleichsmandate sind erforderlich. Der zweite Faktor betrifft speziell die Überhangmandate der CSU. Weil sich die Zahl der Ausgleichsmandate aus dem bundesweiten Überhang ergibt, werden aufgrund des geringen bundesweiten Zweitstimmenanteils der CSU für deren Überhänge wesentlich mehr Ausgleichsmandate benötigt als für die Überhänge der CDU. Der dritte Faktor bezieht sich auf die unterschiedlichen Wahlbeteiligungen in den Bundesländern. Diese versucht das neue Gesetz auszugleichen, um zu gewährleisten, dass hinter jedem Mandat gleich viele Stimmen stehen. Klaffen die Wahlbeteiligungen stark auseinander, kommt es zu einer höheren Zahl an Ausgleichsmandaten.
Abgeordnetenzahl disponibel
Verteidiger des neuen Wahlrechts weisen darauf hin, dass der Bundestag auch bei einer hohen Zahl von Überhang- und Ausgleichsmandaten gemessen an der Bevölkerungsgröße immer noch kleiner wäre als vergleichbare Parlamente anderer europäischer Länder. Dieser Hinweis geht aus zwei Gründen an der Sache vorbei. Erstens nimmt mit steigender Bevölkerungsgröße die Größe der Parlamente stets degressiv ab. Da Deutschland der bevölkerungsreichste Staat der EU ist, hat es also nicht zufällig auch das relativ kleinste Parlament. Gemessen an bevölkerungsreicheren Staaten (oder Staatenverbünden wie der EU) verfügt es dagegen über ein relativ großes Parlament. Die fast viermal so großen USA kommen im Repräsentantenhaus sogar absolut mit weniger Abgeordneten (435) aus als der Deutsche Bundestag. Zweitens ist weniger die Vergrößerung des Parlaments an sich problematisch als die Tatsache, dass sie die Zahl der Abgeordneten zu einer disponiblen Größe macht. Wie groß der Bundestag ist, steht nicht von vornherein fest, sondern hängt von den Unbilden des Wählerverhaltens ab. Gleichzeitig unterminieren die Zusatzmandate den Sanktionscharakter der Wahl. Parteien, die Stimmen verlieren, können trotzdem damit rechnen, mit einer größeren oder gleich bleibenden Zahl an Abgeordneten im Parlament vertreten zu sein. Insofern haben die vier das Gesetz tragenden Fraktionen mit den Ausgleichsmandaten den für sich bequemsten Lösungsweg gewählt.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, ab welcher Größe des Bundestages die Fraktionen unter Handlungsdruck geraten, das Wahlgesetz in der kommenden Legislaturperiode wieder zu ändern. Konsequente Lösungen, die bereits bei der Entstehung der Überhangmandate ansetzen, würden einen Neuzuschnitt sämtlicher Wahlkreise erforderlich machen, an dem die Parteien wegen der dann zu erwartenden Konflikte kein großes Interesse haben dürften. Dasselbe gilt für noch weitergehende Reformüberlegungen, sei es die Abschaffung des intransparenten und zur Manipulation einladenden Zweistimmensystems oder die Einführung offener Listen. Selbst die unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechtsgleichheit schwer zu rechtfertigende Grundmandatsklausel zieht unter den politischen Akteuren kaum jemand in Zweifel. Das Wahlrecht gehört zu den Fragen, in denen die Parteien stark in institutionellen Eigeninteressen befangen sind und nicht selten kartellartige Strukturen ausbilden. Die Verfassungsgerichte können zwar korrigierend eingreifen, aber keinen grundlegenden Wandel bewirken. Eine Revision der Ausgleichslösung erscheint unter diesen Bedingungen eher unwahrscheinlich.
Der Autor ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie in Bonn.