Die Hürde liegt wieder in Karlsruhe
WAHLRECHT Kleine Parteien klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Drei-Prozent-Sperrklausel bei der Europawahl
Eine Sperrklausel kann für kleine Parteien bei Wahlen wie eine unüberwindliche Mauer wirken. Oder sogar wie ein Katapult, das die daran gescheiterte Partei in die Bedeutungslosigkeit zurückwirft. Bei Bundestagswahlen macht es einen himmelweiten Unterschied, ob eine Partei mehr als drei Prozent oder mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen bekommt. Das hat die FDP zuletzt schmerzhaft erfahren. 4,8 Prozent - das bedeutet den Gang in die außerparlamentarische Opposition. Aber auch die erstmals angetretene AfD hat mit ihren 4,7 Prozent erfahren, dass sogar ein unerwartet kräftiger Sprung letztlich nicht ausreichte, um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden.
Für die Europawahlen - die nächste findet am 25. Mai 2014 statt - wird in Deutschland nicht mehr die Fünf-Prozent-Hürde gelten. Diese hatte das Bundesverfassungsgericht im November 2011 gekippt. Sie wurde dann vom Gesetzgeber durch eine Drei-Prozent-Sperrklausel ersetzt. Die Wahlrechtsänderung passierte im Juni 2013 den Bundestag und im Juli den Bundesrat, Anfang Oktober unterzeichnete Bundespräsident Joachim Gauck das entsprechende Gesetz, mit dem kleinere Parteien den Sprung ins Europaparlament einfacher schaffen sollen.
Postwendend wurden dagegen Verfassungsklagen in Karlsruhe eingereicht. Denn auch die Drei-Prozent-Schwelle erscheint mehreren kleinen Parteien noch zu hoch - und ist aus ihrer Sicht letztlich willkürlich. Diese Hürde sichere lediglich den etablierten Parteien ihre Vorteile, argumentieren sie. Mehrere Parteien, darunter die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP), die Freien Wähler und die Piraten, aber auch der Verein "Mehr Demokratie" haben die Sache deshalb abermals nach Karlsruhe gebracht. Und dort hat sich der Zweite Senat der Klagen ungewöhnlich schnell angenommen. Ein Gerichtssprecher hat bestätigt, dass das Bundesverfassungsgericht erwägt, noch im Dezember 2013 mündlich zu verhandeln. Wohl, um noch rechtzeitig vor Mai 2014 klare Verhältnisse zu schaffen.
Sehr deutlich war das Bundesverfassungsgericht bereits geworden, als es im November 2011 die Fünf-Prozent-Klausel bei Europawahlen für verfassungswidrig erklärte. Aus Sicht der Karlsruher Richter verletzt die Klausel den Grundsatz der Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der politischen Parteien. Denn bei der Europawahl 2009 in Deutschland habe es rund 2,8 Millionen Stimmen für Parteien gegeben, die dann nicht in das Europäische Parlament einziehen konnten. Diese "verlorenen" Stimmen konnten damit die Zusammensetzung des EU-Parlamentes nicht beeinflussen. Damit wurde die Gleichheit der Stimmen verletzt, befand das Bundesverfassungsgericht.
In den zurückliegenden Monaten hat der Gesetzgeber dann aber erneut eine Sperrklausel für die Europawahlen eingeführt - und zwar erstmals drei Prozent. "Es ist offensichtlich, dass die großen Parteien mit dieser Gesetzesänderung ihre Pfründe sichern wollen", kritisiert jetzt Michael Efler, Vorstandssprecher von "Mehr Demokratie". Denn große Parteien bekämen proportional mehr Sitze im EU-Parlament, wenn kleine Parteien darin nicht vertreten sind.
Ähnlich äußert sich der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim, der die Klage der Freien Wähler und der ÖDP in Karlsruhe vertritt. Er argumentiert, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Urteil vom 9. November 2011 "das Kartell der politischen Klasse an einer empfindlichen Stelle geknackt". Da sich die etablierten Parteien "das offenbar nicht gefallen lassen wollten", hätten sie das Karlsruher Urteil "ignoriert" und die Drei-Prozent-Klausel eingeführt. Mit seinem Urteil von 2011 habe das Bundesverfassungsgericht formal zwar nur die Fünf-Prozent-Klausel, "in seinen bindenden Gründen aber jede Sperrklausel bei deutschen Europawahlen für verfassungswidrig erklärt", ist von Arnim überzeugt.
Zweifel an der Hürde
Und dieser Meinung ist offenbar nicht nur ein Prozessbevollmächtigter der Kläger. Der "Tagesspiegel" berichtete, ein internes Gutachten der Europaexperten im Bundesinnenministerium sehe keine Chance für eine "Sperrklausel jedweder Art". Die Hausjuristen von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hätten das Karlsruher Urteil im Hinblick auf eine mögliche 2,5-Prozent-Grenze hin untersucht. Diese wäre nach dem Gutachten "verfassungsrechtlich ebenso wenig zu rechtfertigen wie eine andere Ausgestaltung der Sperrklausel".
Wer in die damaligen Urteilsgründe schaut, kann zumindest eine Abneigung der Karlsruher Richter gegen Sperrklauseln bei Europawahlen herauslesen. Der Zweite Senat nimmt darin zunächst Bezug auf die Bundestagswahlen. Die dortige Fünf-Prozent-Sperrklausel sei dadurch gerechtfertigt, dass die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig sei. Dieses Ziel würde "durch eine Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen gefährdet". Der Gesetzgeber dürfe daher bei Bundestagswahlen das Anliegen, dass die politischen Meinungen in der Wählerschaft im Parlament weitestgehend repräsentiert werden, "in gewissem Umfang zurückstellen". Eine "vergleichbare Interessenlage" bestehe auf europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen jedoch nicht, betont das Verfassungsgericht.
Dafür präsentiert das Gericht mehrere Gründe. Erstens: "Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre." Zweitens: Die Gesetzgebung der Union sei nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im EU-Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde.
Daraus zieht das Bundesverfassungsgericht das Fazit: "Deshalb fehlt es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, so dass der mit der Anordnung des Verhältniswahlrechts auf europäischer Ebene verfolgte Gedanke repräsentativer Demokratie im Europäischen Parlament uneingeschränkt entfaltet werden kann." Auffällig ist, dass die Richter sich hier nicht auf eine bestimmte Höhe der Sperre beziehen. Im Urteil vom November 2011 heißt es weiter: "Ohne Sperrklausel in Deutschland wären statt aktuell 162 dann 169 Parteien im Europäischen Parlament vertreten." Es sei nicht erkennbar, dass dadurch die Funktionsfähigkeit des EU-Parlaments "mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde". (AZ: 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10).
Diskussionsbedarf
Genau in diesem Punkt sehen die vier Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, die gegen das Votum Linksfraktion im Juni die Drei-Prozent-Hürde auf den Weg brachten, Diskussionsbedarf. Zumindest begründeten sie die neue Sperrklausel auch damit, dass mit ihr eine verlässliche Mehrheitsbildung und ein gutes Funktionieren des Europaparlaments gewährleistet sei, was nicht zuletzt im Hinblick auf die seit dem Lissabon-Vertrag gestärkten Rechte der Europa-Abgeordneten gegenüber der EU-Kommission wichtig sei. In der Bundestagsdebatte zur Wahlrechtsänderung verwiesen die Vertreter der vier Fraktionen zudem auf eine Entschließung des Europaparlaments, in der die EU-Staaten aufgefordert worden sind, Sperrklauseln zu verabschieden. Zudem hätten die Parlamente von 26 EU-Staaten bereits eine Sperrklausel im jeweiligen Europawahlgesetz aufgenommen. Gleichwohl rechneten einige Abgeordnete bereits damals mit Klagen in Karlsruhe: Man habe aber die besseren Argumente und sollte die Auseinandersetzung führen.
Der Autor arbeitet als rechtspolitischer Korrespondent in Karlsruhe.