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Tag der Ein- und Ausblicke : Geboren im Reichstag

Im Krieg kamen unterhalb des Plenarsaals Kinder auf die Welt. Einige kehrten nun dorthin zurück

16.09.2019
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August und September 1943. Herta Frieda Waligora, geborene Briese, läuft fast jeden Abend die drei Kilometer von ihrer Wohnung in der Lübecker Straße in Berlin-Tiergarten zum Reichstagsgebäude. Sie ist hochschwanger und sucht einen sicheren Ort für die Entbindung. 1939 bekam sie bereits ihren ersten Sohn Hans, aber diese zweite Geburt ist ungleich besonders: Ihr Mann Johann ist im Krieg, ihre Heimatstadt wird seit Monaten bombardiert. In der Berliner Charité, selbst schwer getroffen, schickt man sie ins nahe gelegene Reichstagsgebäude. Dort kann sie die Nächte verbringen. Am 8. September 1943 kommt Walter, Sohn Nummer zwei, auf die Welt - nicht im Krankenhaus oder bei einer Hausgeburt, sondern im Keller des Reichstagsgebäudes.

Das ist das, was Walter Waligora aus den Schilderungen seiner Mutter weiß. "Ich habe meine Mutter leider wenig gefragt und weiß nur, dass sie nach der Nacht im Reichstag am nächsten Morgen immer das Gebäude verlassen und wieder nach Hause gehen musste, bis ich auf die Welt kam", erzählt Waligora.

Besonderer Geburtstag An seinem Geburtstag, auf den Tag genau 76 Jahre später, kehrte er an seinen Geburtsort zurück. Historiker schätzen, dass dort während der letzten zwei Kriegsjahre zwischen 60 und 80 Personen zur Welt gekommen sind. 14 von ihnen meldeten sich auf einen Aufruf des Bundestages. Sie waren beim Tag der Ein- und Ausblicke am 8. September besondere Gäste des Parlaments. "Dass in den Kriegsjahren in diesem Gebäude Leben entstanden ist, ist eigentlich auch fantastisch", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). "Vermutlich haben Sie unter besseren Umständen das Licht der Welt erblickt als viele Altersgenossen", betonte er.

Viele der historischen Dokumente sind in den Kriegswirren verschütt gegangen oder verbrannt. Ab Februar 1943 wurde Berlin bombardiert, im November starteten die Großangriffe, bei denen Brandbomben und Luftminen eingesetzt wurden. Sie hinterließen rund 70.000 zerstörte Gebäude, Tote, Schwerverletzte und viele obdachlose Menschen. Das Reichstagsgebäude glich damals einer Festung: Die Fenster waren zugemauert, auf den Ecktürmen wurden Flakstellungen der Wehrmacht installiert. Nach dem Reichstagsbrand am 27./28. Februar 1933 hatte der Deutsche Reichstag nicht mehr in dem Gebäude getagt. Sicher ist: Im September 1940 ordnete Adolf Hitler persönlich an, den Keller zu einem "Luftschutzraum für Kinder und Wöchnerinnen" auszubauen. Ob das eine richtige gynäkologische Station war, ist unklar.

Eine, die sich noch an die Station erinnert, ist die 95-jährige Annemarie Lehmann aus Berlin-Moabit. Sie brachte dort am 29. Juli 1944 ihre Tochter Heidi Mangino auf die Welt. "In einem Bus wurde ich von der Charité in den Reichstag gebracht. Die Angst und die Nervosität waren damals immer da", erinnert sich Lehmann. Eine Nachbarin aus der Laubensiedlung hatte ihren Sohn im Reichstag geboren, das sprach sich herum, erzählt sie. "Ich kann kaum fassen, dass ich nun mit meiner Mutter zusammen hier stehe", sagt Tochter Mangino, die aus Atlanta angereist ist, wo sie seit 50 Jahren lebt.

Stolz auf die besondere Geburtsstätte ist auch Walter Waligora. "Wenn ich die Kuppel sehe, sage ich gern laut, dass das mein Geburtsort ist", erzählt er. Weit weg ging es für ihn nie. Er hat sein ganzes Leben in Berlin verbracht und lebt seit 20 Jahren in Spandau. Die Mutter Hausfrau, der Vater Elektriker ließ sich Waligora zum Beton- und Schwarzstraßenbauer ausbilden und schulte später zum Begeher um. Bei der Straßenaufsicht war er zuständig für Spandau. Er achte noch heute auf den Zustand der Straßen, vermisse sie manchmal, sagt er. Deshalb schenkten ihm Kollegen zur Rente im Jahr 2006 ein eigenes Straßenschild für den Garten, den "Waligora-Pfad". Schon 1999, als das Reichstagsgebäude wiedereröffnet wurde, kamen er und seine Frau Ingrid und nahmen ein Stück des Materials, mit dem das Gebäude verhüllt war, als Andenken mit. Und auch jede Dokumentation über das Gebäude schaue er im Fernsehen.

Jubiläums-Jahr für das Gebäude Die Idee, die "Reichstagsbabys" an ihren Geburtsort einzuladen, hatte der Abgeordnete Peter Stein (CDU): "Ich bin Städteplaner von Beruf und habe daher einen etwas anderen Blick auf Städte und ihre Gebäude. Ich stelle mir oft vor, was da passiert ist", erzählt er. Es sind die Geschichten, die nicht auf den Hinweis- und Geschichtstafeln stehen, die er sucht - auch an seinem Arbeitsplatz, dem Reichstagsgebäude. "Wir feiern in diesem Jahr viele Jubiläen, etwa 125 Jahre Erstbezug und auch die erste Bundestags-Sitzung nach dem Umzug von Bonn vor 20 Jahren", sagt Stein. "Ich hatte das Gefühl, dass niemand dieses für das Gebäude so bedeutende Jahr auf dem Schirm hatte, deswegen habe ich nachgeforscht", berichtet er. Er las in einem Artikel von einer Frau mit Geburtsurkunde, in der "Reichstagsgebäude" stand, und schaltete den Bundestagspräsidenten ein, um noch mehr Reichstagsbabys zu finden.

Die Frau in dem Artikel, den der Abgeordnete Stein las, ist Mareile Van der Wyst (geborene Dieckhoff). Van der Wyst ist pensionierte Lehrerin, 75 Jahre alt und lebt in Großbeeren bei Berlin. Ein Briefkasten mit Fähnchen, ein großer Grill im Garten - vieles erinnert an ein amerikanisches Bungalow, nur eben in Brandenburg. Denn ihr Mann Ralph ist Amerikaner. Ohne den Krieg hätten sie sich vielleicht nie kennengelernt, denn er war mit der US-Air Force in Berlin-Tempelhof stationiert.

In ausgeprägtem Berliner Dialekt erzählt die Frau mit dem kupferroten Haar von ihrer Geburt: "Als ich geboren wurde, drohte vor allem nachts Bombenalarm." Vor ihr liegen Zeitungsausschnitte verstreut und auch ihre Geburtsurkunde, ausgestellt vom Standesamt Tiergarten, hat sie aus dem Safe geholt: "Mareile Christiane Hildegard Dieckhoff ist am 15. September 1944 in Berlin im Reichstagsgebäude geboren", steht da in Schreibmaschinenschrift. Ihre Familie wohnte damals in Lichtenberg. "Ich vermute, meine Mutter nahm für den Weg in den Reichstag die Straßenbahn", sagt sie. Mit in der Wohnung wohnte auch die Großmutter, die Hebamme war: "Ich meine, dass sie meine Mutter öfters in den Reichstagskeller begleitet hat", erinnert sich Van der Wyst an die Worte ihrer Mutter Hildegard. Der Vater, Requisiteur für die Ufa-Filmgesellschaft, befand sich für Filmaufnahmen in Holland.

"Der musste hin, wo die Filme noch gemacht wurden", sagt sie und deutet auf die Gartenlaube. Darin befindet sich ein besonderes Erinnerungsstück an ihre ersten Tage: Zur Geburt der Tochter ließ ihr Vater eine mit Blumen verzierte Holzwiege von Holland nach Berlin schicken. In dieser schlief Mareile Van der Wyst nach der Rückkehr aus dem Reichstag, bis sie zu groß wurde. Auch ihre eigenen zwei Kinder und die Enkelin schliefen darin. Denn weil die Tochter in die Fußstapfen des Vaters trat und mit dem US-Militär in den Irak-Einsatz musste, passten die Großeltern neun Monate lang auf Enkelin Lily auf.

Geburtsstation neben Kohlenkeller Es wird vermutet, dass sich der Schutzraum, der für 204 Kinder und 39 werdende Mütter ausgelegt war, im Nord-Ost-Teil des Reichstagskellers neben Heizungs,-, Lüftungs- und Versorgungsräumen befand. Ab wann und wie lange genau der Raum im Sinne Hitlers Anordnung genutzt wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Neben dem Schutzraum diente der Keller des Gebäudes auch als Kohlenkeller und Produktionsstätte der AEG für Funkröhren. Auch die wehrmedizinische Zentralkartei und ein Lazarett wurden dort untergebracht "Wie das ausgesehen haben muss, als wir dort geboren wurden, ist jetzt natürlich schwer nachzuvollziehen,", sagt Mareile Van der Wyst bei der Führung durch die modernen Flure im Untergeschoss des Reichstagsgebäudes. Aber so nah dran zu sein, löse trotzdem Herzklopfen aus bei ihr.

Am Morgen war sie wegen der Aufregung schon früh aufgewacht und überlegte sich, einen Antrag zu formulieren. Darin fordert sie im Namen der "Reichstagsbabys", eine Gedenktafel gut sichtbar im Reichstagsgebäude anzubringen. Mit der Hand in Schönschrift verfasst, trug sie den Antrag auch Bundestagspräsident Schäuble vor. "Wir werden etwas in der Richtung machen", versprach dieser. Darauf wird Mareile Van der Wyst ein Auge haben. Denn sie wünscht sich schon lange, dass mehr Menschen erfahren, dass das Reichstagsgebäude, "die heiligen Hallen", wie sie es oft nennt, mal ein improvisiertes Geburtshaus war. L