Recht : Die Briten wursteln fort
Die ungeschriebene Verfassung des Königreichs setzt auf Tradition und Wandel - und hat sich auch während des Brexits bewährt
Muddle through", zu Deutsch "fortwursteln", so hat einst der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch die Maxime der britischen Politik bezeichnet. Worauf träfe diese Beschreibung besser zu als auf den Brexit? Die dreieinhalb Jahre zwischen Referendum und Austritt zeichneten sich in Großbritannien in erster Linie durch die Abwesenheit eines großen Plans aus. Sie waren stattdessen geprägt von nächtlichen Sitzungen, Notlösungen, kurzfristigen Kalkülen und ebenso kurzfristigen Entscheidungen.
Evolutionär Das "Fortwursteln" kennzeichnet jedoch nicht nur die Politik, sondern auch die Verfassung Großbritanniens. Die Briten verzichten seit jeher auf eine abgeschlossene, geschriebene Verfassung. Ihre Verfassung heißt Tradition. Sie entstammt nicht einem einmaligen Akt der Verfassungsgebung, sondern einer langen evolutionären Entwicklung. Statt aus einer einheitlichen Verfassungsurkunde ergibt sie sich aus zu unterschiedlicher Zeit erlassenen Parlamentsgesetzen, aus Regeln des richterrechtlichen Common Law und nicht zuletzt aus Konventionen. Letztere entwickeln sich aus der Staatspraxis und können - auch wenn sie nirgendwo mit Gesetzeskraft fixiert werden - ein hohes Maß an Verbindlichkeit erlangen. Dass die Queen stets diejenige Person zum Premierminister ernennt, die am ehesten eine Mehrheit der Unterhausabgeordneten hinter sich weiß, ist beispielsweise unumstößlich, steht aber nirgends auf Papier.
Zugleich ist die britische Verfassung auf stetige Fortentwicklung angelegt. Ihr wichtigster, wenn nicht gar einziger Grundsatz ist die Parlamentssouveränität: Was das Parlament als Gesetz beschließt, das gilt. Ein höheres Recht, das den Gesetzgeber bindet, gibt es nicht. Die Verfassung ist deshalb auf stete Aktualisierung im politischen Prozess angewiesen und zugleich angelegt. Sie überlässt es weitgehend der Politik selbst, verfassungsrechtliche Maßgaben zur Geltung zu bringen, aber auch weiterzuentwickeln oder zu verändern. Man spricht von einer "politischen Verfassung" - im Gegensatz etwa zum Grundgesetz als einer Verfassung, die rechtliche Vorgaben festlegt und diese gerichtlich durchsetzbar macht. Vergangenheit und Gegenwart, Normativität und Faktizität gehen so eine komplexe und unauflösliche Verbindung ein.
Auf diese Weise hat die britische Verfassung seit der "Glorreichen Revolution" von 1688/89 ihren Kern behalten und sich doch stetig, aber immer schleichend fortentwickelt. Das gilt für die Einführung des Premierministeramts im 18. Jahrhundert und die Ausweitung des demokratischen Wahlrechts im 19. und frühen 20. Jahrhundert ebenso wie für die Errichtung von Regionalparlamenten in Schottland, Wales und Nordirland in den späten 1990er Jahren. Zur jahrhundertealten Verfassungsidentität des Vereinigten Königreichs gehört damit von vornherein als fester Bestandteil, ja als notwendige Bedingung auch der Verfassungswandel. Dass hier die deutsche Staatsrechtswissenschaft hingegen nach 70 Jahren Grundgesetz noch immer auf der Suche nach einem Konzept ist, hat die Debatte um die "Ehe für alle" und den Ehe-Begriff im Grundgesetz eindrücklich gezeigt. Der Grund liegt auf der Hand: Wo es wie in Großbritannien keine formelle Verfassung gibt, dort gibt es auch keine formelle Verfassungsänderung. Verfassungswandel und Verfassungsänderung sind dasselbe.
Keine Krise Der Brexit hat die britische Verfassung auf eine Bewährungsprobe gestellt. Doch entgegen mancher Rede von einer Verfassungskrise hat sie ihre Funktion erfüllt. Der Brexit war stets nur eine politische Krise. Das Verfassungsrecht bot den Politikern die nötigen Kompetenzen und Verfahren, um "fortzuwursteln". Es lag an den politischen Umständen und dem Verhalten des verantwortlichen Personals, dass sich der innerbritische Entscheidungsprozess zu einem immer größeren Chaos auswuchs. Ein systemisches Problem zeigte sich dabei nicht in der Verfassung, sondern anderswo. Der Brexit hat auf drastische Weise offengelegt, wie schwer sich ein parlamentarisches Regierungssystem tut, wenn die Regierung keine stabile Parlamentsmehrheit hinter sich weiß. Zuerst, weil die konservative Partei innerlich gespalten war, nach der Wahl von 2017 dann auch, weil die Tories nicht mehr die Mehrheit der Abgeordneten stellten. Erst die deutliche Mehrheit an Parlamentssitzen, die Boris Johnson bei der Wahl im Dezember 2019 einfahren konnte, sorgte für klare Verhältnisse.
Die britische Verfassung hat den Herausforderungen standgehalten. Die Gewaltenteilung blieb nicht nur aufrechterhalten, das Parlament ist sogar gestärkt worden. Zunächst pochte der Supreme Court, das oberste Gericht Großbritanniens, darauf, dass die Verantwortung für die Austrittsentscheidung nicht bei der Exekutive, sondern bei der Legislative liegt. Das Parlament schaffte es dann, sich ein Mitspracherecht bei der Frage des Abkommens mit der EU zu sichern. Freilich bedurfte es dafür manches prozeduralen Kniffs. Doch gerade hier zeigte sich die Funktionsweise der britischen Verfassung. So konnte John Bercow, der damalige Speaker des Unterhauses, einerseits unter Berufung auf eine jahrhundertalte Regel darauf pochen, dass die Regierung von Theresa May denselben Deal nicht beliebig oft zur Abstimmung stellen durfte. Und andererseits konnte er es den Abgeordneten erlauben, selbst über ihre Tagesordnung zu bestimmen - entgegen der ständig angewandten Norm, wonach jene von der Regierung festgelegt wird. Die britische Verfassung ermöglichte es so, den Grundsatz der Parlamentssouveränität auch gegen eine langjährige Staatspraxis durchzusetzen. Diese beiden Entscheidungen des Speakers verkörpern auf eindrückliche Weise die spezifische Mischung aus Tradition und Flexibilität, die die ungeschriebene britische Verfassung ausmacht. Sie lässt sich weder reduzieren auf "Das haben wir schon immer so gemacht" noch auf "Wir können immer tun, was wir gerade wollen".
Die in den vergangenen Jahren mancherorts verstärkt erhobene Forderung nach einer Kodifizierung der britischen Verfassung erscheint vor diesem Hintergrund schon deshalb als unangebracht, weil das bisherige Regelwerk funktioniert. Darüber hinaus würde eine bloße Verschriftlichung nicht die von vielen gewünschte Klarheit bringen. Eine Regel wird nicht dadurch inhaltlich bestimmter, dass man sie auf Papier schreibt - das Grundgesetz und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Für mehr Bestimmtheit bräuchte es präzisere, letztlich neue Regeln. Doch als verheißungsvoller "constitutional moment" ist der Brexit denkbar ungeeignet. Wie sollte sich ein Land denn gerade im Moment seiner größten Spaltung eine Verfassung geben?
Unter der Regierung Johnson wird deshalb das maßgebliche verfassungsrechtliche Thema nicht Kodifizierung, sondern Gewaltenteilung lauten. Einen Vorgeschmack, der es in sich hatte, gab es bereits voriges Jahr, als Johnson das Parlament in die Zwangspause schicken wollte - und vom Supreme Court gestoppt wurde. In den kommenden Jahren wird es zentral um die Macht der Exekutive und die Kontrollbefugnisse der Judikative gehen. Die Regierung, unterstützt von einer Minderheit der Rechtswissenschaft, hat die Richter als neuen Störfaktor ausgemacht. Es geht zum einen im Allgemeinen um die verwaltungsrechtliche Kontrolldichte, die wieder reduziert werden soll, zum anderen im Speziellen um den Human Rights Act, der die Europäische Menschenrechtskonvention für Großbritannien umsetzt und auf den die Tories es schon seit Längerem abgesehen haben. Man wird sehen, wohin diese Form des "taking back control" führen wird. Eines ist sicher: Die Briten wursteln fort.
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg.