Menschenrechte : Rechtsstaat im Rückbau
Experten verlangen klare Kante gegenüber türkischer Führung
Vor dem Hintergrund der Forderung von Außenminister Heiko Maas (SPD) nach einem neuen EU-Flüchtlingsabkommen haben Experten auf gravierende Menschenrechtsverletzungen in der Türkei hingewiesen. In einer öffentlichen Anhörung des Menschenrechtsausschusses warfen die Sachverständigen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in der vergangenen Woche vor, Demokratie und Rechtsstaat systematisch auszuhöhlen. Die Gewaltenteilung existiere nur noch auf dem Papier, so ihr Urteil. Von Deutschland und der Europäischen Union verlangten die Experten ein entschiedenes Handeln.
Von einem "dramatischen Rückbau" des Rechtsstaates sprach Günter Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Dieser habe "verheerende Auswirkungen" auf die Achtung von Grund- und Menschenrechten. Die Instrumentalisierung der Justiz bedrohe nicht nur die Rechte des Einzelnen, sie verenge auch den Raum für "legales politisches Handeln". Das zeige das Verbotsverfahren gegen die pro-kurdische Partei HDP exemplarisch. Amke Dietert von Amnesty International Deutschland sagte, mit seinem im März präsentierten "Aktionsplan Menschenrechte" gebe Erdogan nur vor, Demokratie und Rechtsstaat stärken zu wollen. Das Gegenteil sei der Fall. Ein Beispiel: die propagierte "Nulltoleranz" gegen Folter. Lokale Menschenrechtsorganisationen berichteten fast täglich über neue Fälle in Polizeistationen und Gefängnissen.
Abkommen als Druckmitte l Deutliche Kritik an der Türkei-Politik der Bundesregierung übte der Journalist Can Dündar: Erdogan kontrolliere Parlament, Justiz und Medien. Trotzdem sei Deutschland bereit, "Kompromisse" zu schließen. Das EU-Flüchtlingsabkommen nutze Erdogan erfolgreich als Druckmittel. Verletzungen der Menschenrechte würden dafür still in Kauf genommen.
Selmin Caliskan von der Open Society Foundations forderte mehr Unterstützung für die Frauenbewegung. Die Zahl der Frauenmorde habe sich in der Türkei in den vergangenen Jahren verdoppelt. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention lasse eine weitere Verschlechterung der Lage befürchten. Diese spiele eine "zentrale" Rolle im Widerstand gegen Erdogans autoritären Kurs. Zudem müsse die EU Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit zur Bedingung für Verhandlungen mit der Türkei machen.
Die Autorin Laila Mirzo mahnte, die Weltgemeinschaft dürfe nicht länger wegsehen. Erdogan sei ein "Islamist und Nationalist", der von einem neuen Osmanischen Reich träume. Angesichts der wiederholten Menschenrechtsverletzungen drängte sie auf "Sanktionen gegen Ankara".
Auch Thomas Schirrmacher, Direktor des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit, plädierte angesichts der wachsenden religiösen und ethnischen Spannungen in der Region zum Handeln: Ob Nordirak oder Nordsyrien, Armenien oder Aserbaidschan - die Türkei "infiziere" mit ihrem Kurs ein Land nach dem anderen, sagte der Theologe.
Die Journalistin Düzen Tekkal forderte, Deutschland müsse sich auf die Seite der demokratisch gesinnten Zivilbevölkerung stellen: "Das gelingt doch auch im Fall von Belarus, warum nicht für die Türkei?" Tekkal plädierte außerdem für ein Verbot der "Grauen Wölfe" in Deutschland. Von der "antisemitisch-völkisch-nationalistischen Bewegung" gehe auch hierzulande Gefahr aus.