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Infektionswelle : Das Gesundheitssystem arbeitet am Limit

Angesichts der seit Wochen anhaltenden Infektionswelle sind Kinderkliniken und Arztpraxen massiv überlastet. Zudem werden Medikamente für Kinder knapp.

19.12.2022
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5 Min

So angespannt war die Lage in Kinderkliniken und Kinderarztpraxen lange nicht mehr. Seit Wochen klagen Mediziner über eine Infektionswelle, von der auch Ärzte und Pfleger nicht verschont bleiben. Somit kommt zu der Masse an Patienten noch fehlendes Personal. Das Robert-Koch-Institut (RKI) ermittelte Anfang Dezember eine ARE-Rate (Akute respiratorische Erkrankungen) von 11,4 Prozent. Das entspricht rund 9,5 Millionen Personen mit neu aufgetretenen akuten Atemwegserkrankungen.

Der Lungenfacharzt und Intensivmediziner Christian Karagiannidis sagte der "Tagesschau": "Was wir aktuell sehen, ist ein deutlicher und sehr früher Anstieg der Influenza- und RS-Virus-Infektionen, zusätzlich zu denen mit Sars-Cov-2."

Foto: picture-alliance/dpa/Guido Kirchner

Kinderkliniken und Arztpraxen werden derzeit von einer Infektionswelle überrollt. Die Versorgung der Kinder ist problematisch. Nun will die Bundesregierung entschlossen gegensteuern.

Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) verbreitet sich laut RKI in den oberen und unteren Atemwegen. Das Virus gehört zu den wichtigsten Auslösern für Atemwegsinfektionen bei Säuglingen und Kleinkindern. Derzeit arbeiten mehrere Pharmafirmen an Impfstoffen gegen RSV, mit einer Zulassung wird in Kürze gerechnet.

Aufnahmestopp für Neupatienten beim einzigen Kinderarzt

Angesichts der dramatischen Lage warf der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) der Politik systematisches Versagen vor. Verbandschef Thomas Fischbach kritisierte, die Pädiatrie werde seit Jahren "ausgehungert". 80 Prozent der Kliniken hätten in den vergangenen Jahren die Zahl ihrer Betten reduzieren müssen, auch im Intensivbereich. In den Praxen müssten zunehmend kranke Kinder mitversorgt werden.

Auf andere strukturelle Probleme verweist ein Fall aus Nordrhein-Westfalen. In Plettenberg gab der einzige Kinderarzt Michael Achenbach jetzt einen Aufnahmestopp für Neupatienten bekannt. Obwohl seine Praxis schon lange überlaufen sei, gelte die Region offiziell nicht als unterversorgt, sagte Achenbach im "Deutschlandfunk" und fügte hinzu, die Versorgungsstatistik bilde die Realität nicht ab.

Berufsverband sieht "Versorgungsnotstand" bei  Medikamenten

Zudem sind Medikamente für Kinder knapp. In Apotheken teilweise nicht zu bekommen sind nach Angaben der Kinderärzte kindgerechte Schmerz- und Fiebermittel, etwa Fiebersäfte und Zäpfchen, Elektrolytelösungen für die Behandlung von Brechdurchfall sowie bestimmte Antibiotika. Der Berufsverband der Kinderärzte macht die Rabattvorgaben und Preisgrenzen bei Medikamenten für den "Versorgungsnotstand" verantwortlich.


„Das Profitsystem hat im Gesundheitsbereich nichts verloren.“
Ates Gürpinar (Die Linke)

Auch der Verband pro Generika erklärte, die Engpässe seien Folge des jahrelangen Drucks auf Preise und Herstellungskosten. Bei Fiebersäften seien die Margen ohnehin gering, in der Energiekrise gingen nun die Kosten durch die Decke. Als weiteren Grund nannte der Verband die Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern. Rund zwei Drittel der Wirkstoffe kämen aus China und Indien. Manche Hersteller seien ausgestiegen, weil die Produktion sich bei den Erstattungspreisen gar nicht mehr rechne.

Die akute Infektionswelle und die Kinderheilkunde waren in der vergangenen Woche auch Thema einer Aktuellen Stunde im Bundestag. In der von gegenseitigen Vorwürfen geprägten Debatte machten Redner deutlich, dass neben aktuellen Problemlösungen die Versorgung der Kinder perspektivisch verbessert werden muss.

Linke fordert Wiederaufbauprogramm für Kinderheilkunde

Die Opposition kritisierte in scharfer Form die teils prekäre Versorgungslage. Ates Gürpinar (Linke) sprach von einem "kaputtgesparten Gesundheitssystem" und verwies auf eine Umfrage, wonach Krankenhäuser bereits Kinder abweisen mussten. Kinder seien zum Teil im Flur mit Sauerstoff versorgt worden. In den vergangenen 30 Jahren sei die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen vorangetrieben worden, wobei mit der Versorgung von Kindern kaum Profit zu erwirtschaften sei. Die Zahl der Beschäftigten und der Betten sei in der Folge gesunken. So könne jede neue Krankheitswelle leicht zum Kollaps führen. Die Beschäftigten in Kliniken müssten das politische Versagen mit Mehrarbeit ausbaden. Gürpinar forderte ein Wiederaufbauprogramm für die Kinderheilkunde.

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Die AfD-Fraktion stellte einen Zusammenhang her zwischen der aktuellen Infektionswelle und der Coronapolitik der vergangenen Jahre. Martin Sichert (AfD) sagte, in der Coronakrise sei Stimmung gegen Kinder gemacht worden, von denen angeblich ein besonderes Infektionsrisiko ausgegangen sei. Heute seien die Intensivstationen der Kinderkliniken voll, weil Kindern durch Masken und Abstand die Immunisierung fehle. Kinder müssten Infekte durchmachen, um Immunität zu entwickeln.

Lauterbach setzt Budgetierung für Kinderkliniken und Praxen aus

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) versprach, die Probleme zügig anzugehen. Das Personal in Kliniken und Praxen arbeite am Limit. Die Regierung habe reagiert und die Pflegepersonaluntergrenzen in Kliniken ausgesetzt. Zudem solle das Pflegepersonal flexibel eingesetzt werden. So könnten für einfachere Fälle Pflegekräfte von Normal- auf Kinderstationen delegiert werden, um Spezialpflegekräfte zu entlasten. Lauterbach kündigte ferner an, auf die Budgetierung zu verzichten, damit Ärzte für jede zusätzliche Leistung voll bezahlt werden. "Wir setzen die Budgetierung ab sofort für die Kinderkliniken und Praxen aus." Honorarkräfte, die in Kliniken zusätzlich arbeiten, sollen zudem über die Pflegebudgets vollständig abrechnet werden können.

Der Minister kündigte einen Gesetzentwurf für die Neuregelungen an. Sollte sich die Lage in den Kinderkliniken nicht verbessern, will Lauterbach notfalls planbare Eingriffe bei Erwachsenen verschieben. Er versicherte: "Wir lassen hier kein Kind zurück." Er will außerdem Vorschläge unterbreiten, um Lieferengpässe für Arzneimittel zu überwinden.


„Wir sind bei der Ökonomisierung zu weit gegangen.“
Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

Simone Borchardt (CDU) erinnerte Lauterbach daran, dass er selbst und die SPD an der Einführung der umstrittenen Fallpauschalen (DRG) vor 20 Jahren beteiligt waren. Der Reformbedarf sei groß, es werde jedoch viel angekündigt und wenig gemacht. Benötigt würden mehr Effizienz und eine bedarfsgerechte Versorgung. Die Sektorengrenzen müssten aufgebrochen und innovative Versorgungsformen erprobt werden. Auch sollte der ärztliche Bereitschaftsdienst neu aufgestellt werden. Die CDU-Abgeordnete sprach von einer aktuell schwierigen Lage, wobei die Erkältungssaison erst am Anfang sei. Ihrer Ansicht nach gibt es aber keinen Grund für Panik. Zwar bestätigten die Kliniken den Krisenmodus, die Versorgung der Patienten sei aber gewährleistet.

Grüne werfen Union falsche Weichenstellung in der Vergangenheit vor

Ricarda Lang (Grüne) hielt der Union vor, in der Vergangenheit falsche Weichen in der Gesundheitspolitik gestellt zu haben, und sprach von Missmanagement. Ärzte und Pfleger täten in dieser harten Zeit alles, um die Verwundbarsten, die Kinder, zu schützen. Sie erinnerte daran, dass unlängst Finanzierungsgarantien für Kinderkliniken gewährt worden sind. Hinzu komme der Ausgleich für die hohen Strom- und Gaskosten in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Lang sagte, die Kindermedizin werde gestärkt, die Ökonomisierung zurückgedrängt.

Andrew Ullmann (FDP) warnte mit Blick auf die Linke vor scheinbar einfachen Lösungen. Es sei ein Irrtum zu glauben, dass mit dem Verzicht auf Fallpauschalen alle Probleme gelöst seien. Die "antiökonomische Propaganda" zeige, dass die Linke die komplexe Problemlage nicht erkannt habe. Gleichwohl sei eine Strukturreform überfällig. Ullmann versprach: "Wir sind auf dem Weg, das gesamte System nachhaltig zu reformieren."