Wohnungslose Jugendliche : "Zurückgehen war nie eine Option, denn das hätte ich nicht überlebt"
Als 15-Jährige flüchtet Miriam von Zuhause und landet auf der Straße. Die Jugendhilfe soll wohnungslose junge Menschen wie sie auffangen – und versagt dabei oftmals.
Wenn Miriam an ihre ersten Tage als Obdachlose zurückdenkt, dann fühlt sie vor allem eines: Angst. Nächtelang irrte die damals 15-Jährige durch die Straßen einer deutschen Großstadt, spürte ein ständiges Gefühl von Bedrohung und Unsicherheit in sich. Nur tagsüber traute sie sich zu schlafen und versteckte sich dafür an vermeintlich sicheren Orten in Parks, Hinterhäusern oder Kellern.
Das Leben auf der Straße sei hart, erzählt Miriam, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, rund 20 Jahre später am Telefon. Wer dort lebe, müsse - vor allem als junges Mädchen - wahnsinnig auf sich aufpassen und gewisse Regeln befolgen: Immer die Schuhe beim Schlafen anlassen. Niemals den Schlafsack ganz schließen. Alle wertvollen Gegenstände direkt am Körper tragen.
Heute haben schätzungsweise 37.000 junge Menschen unter 27 Jahren in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt auf der Straße. Zu diesem Ergebnis kommt eine Erhebung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) aus dem Jahr 2017. Die jungen Menschen sind demnach entweder wohnungslos, das heißt, sie haben keinen eigenen Wohnraum und übernachten etwa bei Bekannten, oder obdachlos und schlafen auf der Straße oder in Notunterkünften. Der größte Teil von ihnen ist zwischen 18 und 24 Jahren alt.
Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl erheblich höher sein dürfte. So sieht es auch Claudia Daigler, Erziehungswissenschaftlerin an der Hochschule Esslingen. Insbesondere junge Menschen würden eher selten auf der Straße schlafen, sondern sich andere Schlafmöglichkeiten suchen. Sie kämen bei Freunden, entfernten Bekannten oder Fremden unter. Diese Arrangements sind laut Daigler aber besonders für junge Frauen gefährlich, wenn Gegenleistungen für den Schlafplatz gefordert werden. "Das kann bis zur Unterschlupfprostitution gehen", sagt Daigler.
Risikofaktor Elternhaus: Direkter oder indirekter Auslöser für Notlagen
Laut DJI-Studie sind familiäre Probleme vor allem für Minderjährige der Hauptgrund für ihre Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Bei Miriam war es so. Sie ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen, erzählt sie in klarem Hochdeutsch. Den Akzent ihrer Heimatregion hat sie lange abgelegt. Ihre Mutter war alkoholkrank, eine konstante Vaterfigur gab es nicht. Vernachlässigung und Gewalt prägten ihre Kindheit. Mit 15 ergriff Miriam nach einem Streit mit der Mutter die Flucht und gelangte schließlich in eine weit entfernte Großstadt. "Zurückgehen war nie eine Option", sagt sie, "denn das hätte ich nicht überlebt". Die Angst, zurück ins Elternhaus zu müssen, war auf der Straße ihr ständiger Begleiter, erinnert sie sich.
Auch bei den Klienten von Pädagogin Ines Fornaçon ist das Elternhaus oftmals direkter oder indirekter Auslöser für deren Notlagen. Fornaçon leitet die Berliner Geschäftsstelle der "Off Road Kids" in der S-Bahn-Station Bellevue. Die Stiftung kümmert sich um junge Menschen, die von Wohnungslosigkeit bedroht oder betroffen sind. Immer wieder hallt das Rattern der Züge durch die Büros, während Fornaçon von den Gründen für Wohnungslosigkeit berichtet. Vielfältig seien diese. Sie spricht von Eltern, die ihre Kinder rausschmeißen; von jungen Menschen, die die psychischen Probleme ihrer Eltern nicht mehr aushalten; von einer Flucht vor der drohenden Zwangsverheiratung und von Geldsorgen der Eltern.
Sozialarbeit im Internet
Insgesamt ist die Zahl der jungen Menschen, die bei den "Off Road Kids" Hilfe suchen, seit der Pandemie massiv angestiegen. Im März 2023 waren bundesweit mehr als 600 junge Menschen zu einer Erstberatung dort - ein neuer Höchstwert. Dabei seien alle Bevölkerungsschichten vertreten, sagt Fornaçon. Besonders die Zahl der Auszubildenden, die bei den "Off Road Kids" Hilfe suchen, ist stark gestiegen. Erst letztens habe sie einen Klienten betreut, dessen Mutter ihn während seiner Ausbildung vor die Tür gesetzt habe, weil ihr durch seinen Verdienst eine Kürzung ihrer Bezüge drohte. Durch den immer angespannteren Wohnungsmarkt in Großstädten könnten sich viele junge Menschen keine eigene Wohnung mehr leisten.
Früher haben Fornaçon und ihr fünfköpfiges Team die jungen Menschen direkt auf der Straße ausgesucht und angesprochen. Mittlerweile haben sie diese aufsuchende Sozialarbeit eingestellt und arbeiten nur noch mit Terminen. Durch vermehrte Polizeipräsenz seien ihre Klienten an den gängigen Orten nicht mehr auffindbar gewesen, berichtet sie. Daher haben die "Off Road Kids" vor einigen Jahren die Website "sofahopper.de" ins Leben gerufen. Für Fornaçon bedeutet Streetwork, "dort zu sein, wo die Jugendlichen sich aufhalten". Und das ist heute das Internet. Mehr als 4.600 Hilfeanfragen sind im vergangenen Jahr über die virtuelle Streetwork-Station eingegangen. In der Regel kommt es danach zu einem Erstgespräch, bei dem die wichtigsten Dinge organisiert werden: ein Schlafplatz, Essen und eine Krankenversicherung. Für Fornaçon und ihr Team bedeutet dies viel Recherche und Telefonieren. Im Notfall hat Fornaçon auch schon mal ein Hostelbett gebucht: "Hier geht niemand ohne einen Schlafplatz für die Nacht raus."
Um die jungen Menschen langfristig von der Straße weg zu bekommen, begleiten Organisationen wie die "Off Road Kids" junge Wohnungslose bei Behördengängen. "Alleine würde ein junger Mensch das gar nicht schaffen", sagt Fornaçon. Zu bürokratisch sei der Vorgang, zu oft würden Ämter die Zuständigkeit von sich weisen.
Dabei ist in der Theorie die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland klar geregelt. Ziel der Jugendhilfe ist es, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu fördern und jungen Erwachsenen in besonders schwierigen Situationen zu helfen. Dazu zählt unter anderem, Kinder, die nicht bei ihren Eltern wohnen können, in stationären Einrichtungen wie Wohngruppen oder Pflegefamilien unterzubringen, und die jungen Menschen entsprechend zu betreuen.
Im Gegensatz zur Sozialhilfe verfolgt die Jugendhilfe auch erzieherische Ziele und kann bei Bedarf bis zum 27. Lebensjahr greifen. Dennoch gleiche es "einem Sechser im Lotto", einen über 18-Jährigen bei Maßnahmen der Jugendhilfe unterzubekommen, sagt Fornaçon. Obwohl die Zuständigkeit für die Jugendhilfe klar bei den Jugendämtern liege, würden immer wieder Betroffene zu den Sozialämtern geschickt werden, die sich wiederum auch nicht zuständig fühlten und zurück ans Jugendamt verweisen würden.
Care Leaver sind besonders bedroht
Auch Sozialarbeiterin Truc Quynh Vo kritisiert, dass in der Realität die Unterstützung, die ein junger wohnungsloser Mensch in Deutschland erhält, stark vom Zufall wie zum Beispiel einer engagierten Sachbearbeiterin abhänge. Vo ist für "Careleaver e.V." tätig. Der Verein setzt sich für die sogenannten Care Leaver ein. Der Begriff bezeichnet junge Menschen, die einen Teil ihres Lebens in Einrichtungen wie Wohngruppen oder Pflegefamilien verbracht haben. Dadurch, dass bei vielen mit dem 18. Lebensjahr die Unterstützung endet, ist diese Gruppe besonders von Wohnungslosigkeit betroffen.
Obwohl gesetzlich geregelt ist, dass Care Leaver durch eine Reform des Kinder- und Jugendstärkungsgesetz mit der "Coming Back"-Option die Möglichkeit haben, auch nach dem 18. Geburtstag bei Bedarf in die Jugendhilfe zurückzukehren, sieht die Realität anders aus. Viele Ämter haben laut Vo auch zwei Jahre nach der Reform keine Handhabe, wie sie die zusätzlichen Ansprüche umsetzen können. Auch fehle es an personellen und finanziellen Ressourcen: "Längere Hilfen bedeutet natürlich auch, dass mehr Geld dafür da sein muss", fordert sie.
In der geschlossenen Unterbringung
Auch Miriam ist Care Leaverin. Im Gegensatz zu den Klienten von Fornaçon und Vo hat sie allerdings den Kontakt zur Jugendhilfe und Sozialarbeit lange vermieden. Stark traumatisiert durch die gewaltvollen Erfahrungen im Elternhaus waren für Miriam alle Erwachsenen "tendenziell gefährlich und denen war nicht zu trauen", sagt sie. Dass sie dennoch an die Jugendhilfe geraten ist, war Zufall. Rund ein halbes Jahr, nachdem sie auf der Straße gelandet war, hatten Straßensozialarbeiter die stark unter Drogen stehende Miriam aufgesammelt. Schließlich entschied ein Richter, die Jugendliche wegen "starker Gefahr der Eigengefährdung" geschlossen unterzubringen. Einen Psychologen hat sie weder vor noch nach der Entscheidung gesprochen.
Die geschlossene Unterbringung wird heute kaum mehr angewendet, auch wenn einzelne Bundesländer wie Hamburg derzeit planen, neue Zentren zu bauen. Im Gegensatz zu stationären Unterbringungsformen der Jugendhilfe wie Wohngruppen oder Pflegefamilien bedarf es für die geschlossene Unterbringung, die mit strengen Regeln und Freiheitsentzug einhergeht, einen richterlichen Beschluss. Belastbare Zahlen dazu, wie viele junge Menschen sich aktuell in einer geschlossenen Unterbringung befinden, gibt es laut Familienministerium nicht. Laut einer Sprecherin des Familienministeriums dient eine solche Maßnahme der "bedürfnisgerechte[n] Unterbringung, Versorgung und Betreuung von Jugendlichen". Kinder und Jugendliche bräuchten einen sicheren und geschützten Ort, um "gänzlich neue Handlungs- und Überlebensstrategien" zu erlernen.
Reaktion eines überfordeten Systems
Im Gegensatz zum Ministerium sieht Miriam in diesem System keinerlei Nutzen: "Das ist eine absolut hilflose Reaktion eines Systems, das wahnsinnig überlastet ist und sich nicht anders zu helfen weiß." Ihr Alltag in der Einrichtung war bestimmt von einem Stufenplan, sagt sie. Wer sich an die Regeln hielt, stieg eine Stufe nach oben und bekam mehr Rechte. "Es zeigt nur, wie sehr sich Menschen anpassen können, um etwas zu erreichen." Sie konnte sich damals nicht anpassen. Die meiste Zeit habe sie in ihrem Zimmer verbringen müssen. Beschult wurde sie - trotz Schulpflicht - nicht. "Ich wollte dort nicht sein, habe nicht kooperiert und galt als 16-Jährige als nicht tragbar." Miriam räumt ein, dass sie damals auch nicht kommunikationsbereit gewesen sei. Doch es sei die Aufgabe der Fachkräfte gewesen, "Mittel und Wege zu finden, mit mir zu kommunizieren".
Auch Truc Quynh Vo von "Careleaver e.V." kritisiert, dass manche Träger von Jugendhilfeeinrichtungen zu wenig aushielten. Sobald ein Jugendlicher Probleme verursache, heiße es schnell, "die Person ist nicht tragbar". Dabei werde oft vergessen, dass die Jugendhilfe sehr hohe Ansprüche an die jungen Menschen stelle, kritisert Vo. Zu den "ganz normalen Schwierigkeiten wie Schule" komme hinzu, dass Menschen in Pflegeeinrichtungen teilweise eine hohe emotionale Belastung stemmen und viel früher selbstständig sein müssten als andere junge Menschen.
Miriam denkt nicht gern an dieses Kapitel ihres Lebens zurück. Rund ein halbes Jahr hat sie in der geschlossenen Unterbringung verbracht, bevor sie während eines Arztbesuches "stiften gegangen ist" - zurück auf die Straße: "Die Straße war das Vertrauteste, was ich kannte", sagt sie. Bei ihrer Flucht hatte sie nur ihren zerfledderten grünen Kinderausweis, einen Kapuzenpulli und ein Buch bei sich. Lesen habe ihr während der Zeit auf der Straße gegen die Angst geholfen.
Bis zum 18. Lebensjahr ist Miriam auf der Straße geblieben. Ihre Tage bestanden aus Schnorren und Straßenmusik. "Ich hatte damals nur einen Gedanken: Ich muss volljährig werden. Dann kann ich selbst entscheiden, wo ich bin und was ich bin."
Eigene Lobby für Straßenjugendliche
Dass Straßenjugendliche selbst entscheiden können, was sie brauchen und dies auch aktiv einfordern, ist eines der Hauptanliegen von "Momo - the voice of disconnected youth". Vor einigen Jahren haben ehemalige Straßenjugendliche die Initiative gegründet, die neben den offiziellen Anlaufstellen existiert. Momo bedeutet für die Straßenjugendlichen ein Begegnen auf Augenhöhe in einem geschützten Rahmen, wo sie unter sich sein können. Im Gegensatz zu Ämtern, erklärt Angelique Hipke, sei die Hilfe bei Momo nicht an Bedingungen geknüpft. Hipke ist die einzige hauptamtliche Mitarbeiterin der Momos in Berlin. Weitere Büros gibt es in Essen und Hamburg. Benannt hat die Initiative sich nach der Titelfigur von Michael Endes gleichnamigen Roman über ein Mädchen, das allein am Rande einer Großstadt in den Ruinen eines alten Amphitheaters lebt.
Die Momos, die sich als Stimme einer entkoppelten Jugend bezeichnen, sind nicht nur Auffangnetz für Betroffene, sondern auch eine Lobby für Straßenjugendliche. "Wir wollen das, was uns passiert ist, nach außen tragen", sagt Hipke. Sie hat selbst keine guten Erfahrungen mit der Jugendhilfe gemacht. Dennoch betont sie, dass die Jugendhilfe als Schutzschirm für Kinder und Jugendliche eine wichtige Aufgabe erfülle und viele gute Ansätze beinhalte. Nur müssten diese in der Realität besser umgesetzt werden. Damit dies geschehe, geben die Momos ihre Forderungen durch Gespräche und Stellungnahmen direkt an die Politik weiter, unter anderem bei der Reform des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes.
"Housing First" für junge Wohnungslose
Für Miriam ist der 18. Geburtstag der Wendepunkt. Nach drei Jahren auf der Straße bekommt sie mit einem frisch ausgestellten Personalausweis und "viel Glück" ein WG-Zimmer. Das Geld für die erste Monatsmiete hat sie sich auf der Straße erschnorrt. Mit einem Dach über dem Kopf bekommt sie auch allmählich ihr Leben in den Griff. Sie beginnt einen Job bei einer Gastrokette, findet einen Ausbildungsplatz, holt später sogar ihren Schulabschluss nach.
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In vielen anderen Ländern wird eine sogenannte "housing first"-Strategie genutzt, um Menschen langfristig aus der Obdachlosigkeit zu bekommen. Der Gedanke dahinter ist, dass Menschen zunächst ein Dach über dem Kopf brauchen, um sich zurück in ein geregeltes Leben zu kämpfen. Auch für junge Menschen könnte diese Strategie ein Ansatz sein, findet die Esslinger Erziehungswissenschaftlerin Daigler. In Deutschland gebe es dazu erste, wenige Projekte, bei denen die jungen Menschen Wohnraum bekommen und nur ganz wenig betreut werden. Ein niedrigschwelliges Angebot, auf das Miriam sich vielleicht eingelassen hätte.
Mittlerweile arbeitet sie als Sozialarbeiterin und hilft jungen Menschen in ähnlicher Lage. Sie bezeichnet sich selbst als Expertin aus Erfahrung. Ein Blick, den sie unbedingt behalten möchte. Denn dass sich ihre Geschichte so oder so ähnlich noch heute wiederholt, das weiß sie aus eigener Erfahrung mit ihren Klientinnen und Klienten.