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Erinnerung an den Holodomor : Altes und neues Leid in der Ukraine

1932/33 verhungerten unter sowjetischer Herrschaft Millionen von Bauern. Der russische Angriffskrieg weckt schmerzhafte Erinnerungen.

05.12.2022
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Kiew vor zehn Tagen: Kerzen in den Fenstern spenden der Millionenstadt ein wenig Licht. Denn weite Teile der ukrainischen Hauptstadt bleiben nach den russischen Angriffen auf die Energie-Infrastruktur wieder einmal ohne Strom.

Bereits am späten Nachmittag wird es stockdunkel. Doch immerhin die Wachskerzen brennen. Der Anlass indes könnte kaum trauriger sein: Die Ukraine gedenkt des Holodomor - der vor 90 Jahren vom sowjetischen Diktator Josef Stalin künstlich herbeigeführten Hungersnot, an der in vielen Gebieten jeder vierte Ukrainer zum Opfer fiel.

Foto: picture-alliance/EPA/Oleg Petrasyk

Mit Blumen und Lichtern gedachten auch in diesem Jahr viele Ukrainer des Holodomor am Mahnmal in Kiew. Zu den Gedenkfeiern waren europäische Staats- und Regierungschefs angereist, darunter Polens Premier Morawiecki und die litauische Regierungschefin Simonyte.

Trauer um die Opfer von Hunger und Krieg

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1991 wird dieses Gedenken jedes Jahr von mehr Bürgern begangen. Dieses Jahr waren große Versammlungen wegen des Kriegsrechts im Zuge der russischen Invasion in die Ukraine verboten. Umso mehr Kerzen brannten auf den Fenstersimsen von Wohnungen und Amtsgebäuden in der ganzen Stadt.

Die Trauer um die Millionen Opfer von damals eint die Ukraine heute zusätzlich. Sie vermischt sich mit der Trauer um die Kriegsopfer von heute, um Zehntausende ukrainische Soldaten und Soldatinnen, Tausende Zivilisten, darunter kleine Kinder, die von der russischen Armee ermordet worden sind.

Deutschland verurteilt den Holodomor als Völkermord

Für die meisten Ukrainer ist klar: Bei dem 1932/33 von Stalin und seinen Schergen in der Ukraine absichtlich erzeugten Hunger handelt es sich um einen Genozid am ukrainischen Volk, um einen Völkermord. Seit 1991 versucht Kiew, diese Sichtweise in alle Welt zu tragen.

Auch Deutschland hat dieses Begehren erreicht. Ein Antrag, den Holodomor in der Ukraine als Genozid zu bezeichnen und zu verurteilen, wurde bereits 2019 von Aktivisten in Form einer Petition im Bundestag eingebracht. Am Donnerstag verabschiedete der Bundestag schließlich eine gemeinsame Resolution der Koalitionsfraktionen und CDU/CSU. Die Bundesrepublik Deutschland ist damit das 23. Land weltweit und das zehnte EU-Mitglied, das den Holodomor als Völkermord bezeichnet und verurteilt hat.

Israel fürchtet Gleichstellung mit dem Holocaust

Die Einstufung des Holodomor als Genozid geht auf Raphael Lemkin, einen Juristen der Vereinten Nationen mit polnisch-jüdischer Abstammung zurück. Er bezeichnete die Hungersnot 1953 als erster als Völkermord.

Diese Sichtweise ist indes nicht unumstritten. Kritiker des Genozid-Begriffs für den Holodomor führen ins Feld, dass damals auch in anderen Teilen der Sowjetunion großer Hunger herrschte. Vor allem in Israel wird zudem eine mögliche Gleichstellung mit dem Holocaust befürchtet.

Sowjetischer Fünfjahresplan sah den Export von möglichst viel Getreide vor

Die Bezeichnung Holodomor leitet sich vom ukrainischen Wort "Holod" für Hunger und "Mor" für Sterben/Tod ab. Die absichtlich herbeigeführte Hungerkrise unter großen Teilen der ukrainischen Bauernschaft war der forcierten Industrialisierung der Sowjetunion auf Kosten der zahlenmäßig viel größeren Bauernschaft geschuldet.

Schon Lenin bemerkte 1921, dass der Bauer eben "etwas Hunger leiden" müsse, um damit "Fabriken und Arbeiterschaft vom Hunger zu bewahren". In dem unter seinem Nachfolger Stalin ausgearbeiteten ersten sowjetischen Fünfjahresplan war deshalb der Export von möglichst viel Getreide gegen Devisen vorgesehen, um damit moderne westliche Maschinen für die Fabriken kaufen zu können. Da die Ukraine die Kornkammer der Sowjetunion war, war sie von dieser Vorgabe besonders betroffen.

Regionale Bauernführer gingen gegen sowjetische Autoritäten vor

Größere Ernteerträge sollten sofort nach der Machtergreifung der Bolschewiki in Russland und den besetzten Gebieten durch Zwangsvereinigungen der Einzelhöfe und eine Mechanisierung der Agrarwirtschaft erzielt werden. Gegen die Kollektivisierung wehrten sich die ukrainischen Bauern vehementer als Landwirte in anderen Teilen der Sowjetunion.

Bereits 1918/19 gab es dort viele teils gewalttätige Bauernaufstände. Regionale Bauernführer, die sich wie einst bei den Kosaken als Atamane bezeichneten, befreiten ganze Landstriche von den sowjetischen Autoritäten. Sie beriefen sich dabei oft auf die Saporoscher Kosaken, jene der Leibeigenschaft entflohenen Bauern-Krieger, die sich bis 1775 erfolgreich gegen Russland wehrten und in der Südukraine selbstregierte Gebiete besiedelten.

Getreide wurde exportiert, um im Westen Maschinen zu bezahlen

Am erfolgreichsten war ab 1918 der Anarchist Nestor Machno, der erneut weite Teile der Südostukraine (rund um ein Kerngebiet in der heutigen Oblast Saporoschschja) von der Staatsmacht befreite und bis 1921 auch gegen die kommunistische "Rote Armee" verteidigte.

Infolge der meistens erzwungenen Vereinigung der Einzelhöfe zu Kolchosen und Sowchosen verringerte sich die Getreideernte in der Ukraine im ersten Jahrzehnt der Sowjetherrschaft um rund einen Fünftel. 1932 und 1933 kamen wetterbedingt zu schlechten Ernten hinzu.

Statt darauf Rücksicht zu nehmen, erhöhte die Sowjetmacht die Getreideabgabequoten aber für jedes Dorf. Das meiste so requirierte Getreide wurde exportiert, um vor allem in USA, Großbritannien und Deutschland bestellte Maschinen für die Sowjetindustrie zu bezahlen.

In manchen Dörfern der Ukraine kam es sogar zu Kannibalismus

Ab November 1932 ging die Sowjetmacht in der Ukraine auf Stalins Geheiß dazu über, die Bauerndörfer nach angeblich oder tatsächlich verstecktem Getreide zu durchsuchen. Dabei wurden die Dörfer von bewaffneten Einheiten umstellt und oftmals nebst Getreide gleich alles Essbare konfisziert.

Gleichzeitig verhinderte ein strenges Passierschein-Regime die Abwanderung von hungernden Bauern in die Städte und andere Landesteile, etwa in die weniger betroffene Westukraine. In manchen Dörfern kam es danach zu Kannibalismus. Betroffen von den Zwangsmaßnahmen waren nicht nur Getreideanbaugebiete, sondern etwa auch das Kiewer Umland.

Brutale Säuberungswelle in der ukrainischen Intelligenz

Die brutale de facto-Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung ging einher mit einer Säuberungswelle in der ukrainischen Intelligenz, bei der rund 50.000 Akademiker, Lehrer und frühere Beamte sowie 10.000 Geistliche ermordet oder in Lager nach Sibirien verschickt wurden.

Damit nahmen die Zwangsmaßnahmen gegen die ukrainischen Bauern klar anti-ukrainische Züge an. Gebrochen werden sollte offenbar nicht nur der Widerstand vieler Ukrainer gegen die Sowjetisierung, sondern das ukrainische Volk an sich.

Der Hungersnot fielen rund vier Millionen Menschen zum Opfer

Der Hungersnot fielen nach konservativen Schätzungen rund vier Millionen Menschen zum Opfer. Die genaue Zahl ist indes immer noch unklar, weil vor allem in Russland zahlreiche Archive nach wie vor verschlossen sind. So gehen manche Forscher von mehr als sieben Millionen Todesopfern alleine in der Ukraine aus.

Zählt man die Hungeropfer infolge von Lebensmittel-Requirierungen in anderen Teilen der Sowjetunion dazu, kommt man fast auf das Doppelte. In Kasachstan etwa soll bei der mit Waffengewalt erzwungenen Sesshaftigkeit der Nomaden rund ein Drittel der Bevölkerung verhungert sein. Auch für Russland geht die Forschung von bis zu zwei Millionen Opfern aus, wobei die Hungersnot dort vor allem Nicht-Russen, darunter etwa Wolga-Deutsche, betraf.

Der Holodomor wird in Russland kaum beachtet und erforscht

Der ukrainische Holodomor forderte vor allem in jenen Landesteilen die meisten Opfer, in denen es 1918/19 zu den größten Bauernunruhen gekommen war, so wie in der heutigen Oblast Saporschschja, dem Kerngebiet der bäuerlichen Machno-Partisanen. Im schon damals hochindustrialisierten Donbas starben 1932/33 deutlich weniger Bauern. Selbst während der Hungersnot wurden dort die Lebensmittelrationen für die Industriearbeiter erhöht.

Während der Holodomor im ukrainischen Nationalbewusstsein eine große Rolle spielt, wird er in Russland kaum beachtet und kaum erforscht. Vor allem der pro-westliche ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko, dem die "Orange Revolution" von 2004 zum Wahlsieg verholfen hatte, setzte sich sehr für das Holodomor-Gedenken ein.

Unter ihm wurde der Holodomor 2006 von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Einkammerparlament, zum Genozid erklärt und dessen Leugnung unter Strafe gestellt. 2008 lud Juschtschenko auch seinen damaligen russischen Amtskollegen Dmitri Medwedew zur einer Gedenkfeier nach Kiew ein, doch der verweigerte seine Teilnahme. Immer wieder protestiert Moskau seitdem gegen die Bezeichnung des Holodomor als Genozid.

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Russland setzt den Hunger erneut als Waffe ein

Erst kürzlich verglich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi die russischen Angriffe auf die ukrainische Energie-Infrastruktur mit dem Holodomor. "Einst wollten sie uns durch Hunger zerstören, nun durch Dunkelheit und Kälte", schrieb er in seinem Telegram-Kanal.

Schon im Sommer hatten ukrainische Politiker darauf hingewiesen, dass die russische Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen und damit die Getreideausfuhr erneut Hungersnöte provoziere, diesmal in Afrika und Asien.

Unter Vermittlung der Vereinigten Nationen und der Türkei konnten dafür Lösungen gefunden werden, die allerdings am seidenen Faden des Moskauer Goodwills hängen. Nach 90 Jahren setzt Russland damit als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion den Hunger erneut als Waffe ein.

Der Autor ist freier Osteuropa-Korrespondent.