Letzter EU-Gipfel des Jahres in Brüssel : Einigung auf Ukraine-Hilfen kommt frühestens im Januar
Nur mühsam können die EU-Staaten ein Veto Ungarns gegen den Start von Beitrittsgesprächen mit der Ukraine verhindern. Der Streit über Finanzhilfen geht weiter.
Die Zuversicht wirkte nicht gespielt. Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn in der Ukraine vor knapp zwei Jahren beantwortete Russlands Präsident Wladimir Putin am Donnerstag wieder Fragen im Fernsehen. Und gab sich siegesgewisser denn je: Die Truppen verbesserten ihre Stellungen "praktisch auf der gesamten Länge der Kontaktlinie", verkündete er, seit Jahresbeginn hätten sich bis zu 500.000 Männer freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet. "Wir kommen voran", betonte Putin, und verwies zudem auf die - trotz westlicher Sanktionen - unerwartet gute wirtschaftliche Situation in Russland: Wirtschaftsleistung über dem Vorkriegsniveau, steigende Löhne.
Und während knapp 1.900 Kilometer entfernt in Brüssel die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union auf ihrem letzten regulären Gipfel des Jahres über ein 50 Milliarden Euro-Hilfsprogramm für die Ukraine und die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit ihr stritten, lobte Putin im TV jenen Mann als "Verteidiger nationaler Interessen", der sich in Brüssel vehement gegen diese Schritte wehrte: Ungarns Regierungschef Viktor Orban.
Weil die übrigen EU-Staaten der Siegesgewissheit von Putin unbedingt ein starkes Signal der Solidarität mit der Ukraine entgegensetzen wollten, griffen sie zu kreativen Mitteln: So gab die EU-Kommission vor Beginn des Treffens Fördermittel für Ungarn, die sie seit einem Jahr wegen des Abbaus des Rechtsstaats in dem Land zurückgehalten hatte, teilweise frei; Europaabgeordnete sprachen empört von "Bestechungsgeld". Orban griff die Vorlage dankbar auf und knüpfte seine Zustimmung zu weiteren Ukraine-Hilfen schließlich sogar an die Freigabe aller blockierter EU-Mittel für sein Land.
Eine erste, für Orban gesichtswahrende Entscheidung erreichten die Staats- und Regierungschefs erst am Donnerstagabend durch einen Verfahrenstrick: Orban verließ für kurze Zeit den Raum, damit die übrigen Teilnehmer einstimmig den Start der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine - und Moldau - beschließen konnten. Ein Kniff, der dem Vernehmen nach maßgeblich von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ersonnen wurde.
Scholz: Unterstützung für Ukraine darf nicht nachlassen
Der hatte schon einen Tag vor Beginn des Gipfels in seiner Regierungserklärung vor dem Bundestag betont, für wie wichtig er die andauernde Unterstützung für die Ukraine hält. "Putin ist nach wie vor fest entschlossen, das Land militärisch in die Knie zu zwingen. Er setzt darauf, dass die internationale Unterstützung nachlässt", erklärte der Kanzler. Die Gefahr, dass dieses Kalkül aufgehen könne, sei nicht von der Hand zu weisen. Die russische Waffenproduktion laufe auf Hochtouren, hunderttausende neue Rekruten habe die russische Führung einberufen. Ob Putin sich damit durchsetze, sei "fundamental für die Sicherheit Europas und für die Sicherheit Deutschlands".
Hinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldau, fügte Scholz hinzu, gehe es darum, "keinen Zweifel aufkommen zu lassen, wohin der Weg dieser beiden Länder führt: als freie europäische Nationen in ein freies vereintes Europa".
Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann appellierte in der Aussprache eindringlich, "nicht kriegsmüde zu werden" und der Ukraine weiter zu helfen: "humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen".
Ihr Fraktionskollege Robin Wagener betonte, sowohl die Ukraine als auch Moldau hätten "trotz des Krieges und der fortwährenden Destabilisierung" große Fortschritte im Reformprozess erzielt, die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen sei daher, anders als von Orban behauptet, möglich.
Union und FDP sprechen sich für Taurus-Lieferung aus
Johannes Vogel (FDP) und Gunther Krichbaum (CDU) warben für eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine, auch durch die - in der Koalition umstrittene - Lieferung von Taurus-Luft-Boden-Marschflugkörpern. Die Ukraine brauche die Taurus-Raketen dringend, mahnte Krichbaum, "damit sie hinter und in den feindlichen Linien wirken können; sonst gehen ihr irgendwann die Soldaten aus". In Bezug auf die oft Jahre währenden Beitrittsverhandlungen in der EU sprach der CDU-Abgeordnete sich für eine Änderung des Verfahrens aus, "will heißen, dass wir in Zukunft Beitritte schrittweise vollziehen müssen".
Vogel mahnte mit Blick auf die Tatsache, dass Deutschland 50 Prozent der finanziellen Hilfen der EU für die Ukraine zur Verfügung stellt, einen stärkeren Beitrag der europäischen Partner an.
Neue Schritte auf dem Weg zur EU-Erweiterung
📩 Die Ukraine hatte bereits am 28. Februar 2022, kurz nach dem Beginn der russischen Invasion, die EU-Mitgliedschaft beantragt. Seit dem 24. Juni 2022 ist sie Beitrittskandidat, am 14. Dezemebr empfahlen die Staats- und Regierungschefs der EU die Aufnahme von Beitritsgesprächen mit ihr und der Republik Moldau. Letztere hatte im März 2022 ihren Beitrittsantrag eingereicht.
🔊 Näher an die EU rückt durch die Gipfeleinigung auch Georgien, das den Status eines Beitrittskandidaten erhält. Die EU-Staaten wollen zudem Beitrittsgespräche mit Bosnien-Herzegowina aufnehmen, sobald das Land die Bedingungen dafür erfüllt. Die EU-Kommission soll dazu im März einen Bericht vorlegen.
Die Koalitionsfraktionen betonten in zwei Entschließungsanträgen ihre Unterstützung für einen Beitritt der Ukraine und Moldaus in die EU. Auch wenn, wie Johannes Schraps (SPD) sagte, die Erfahrung lehre, "dass dafür wahrscheinlich ein langer Atem und viel Durchhaltevermögen notwendig sein werden".
Putin sieht die Zeit auf seiner Seite
Klar ist, dass die Ukraine der EU nicht beitreten kann, solange Krieg herrscht. Weil sie noch nicht alle sieben Vorbedingungen der EU-Kommission erfüllt hat, werden die Gespräche auch nicht sofort beginnen. Putin sieht die Zeit auf seiner Seite: Im Fernsehen verkündete er schadenfroh, dass die ausländische Unterstützung für die Ukraine abzunehmen scheine. Er verwies dabei auf den Streit in der EU und die Blockade weiterer Ukrainehilfen durch die Republikaner im US-Kongress.
Auf das Hilfspaket für die Ukraine konnten sich die EU-Staaten in Brüssel wegen des Vetos von Orban tatsächlich nicht einigen. Die Entscheidung darüber wurde auf Anfang 2024 vertagt.