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Nato-Erweiterung : Finnland und Schweden sind noch längst nicht am Ziel

Der Beitritt der beiden skandinavischen Staaten zur Nato ist beschlossene Sache, doch die Türkei spielt weiter auf Zeit.

08.08.2022
True 2023-11-14T13:51:00.3600Z
4 Min

Es war eine historische Wende: Lange Zeit blieben Finnland und Schweden militärisch neutral. Doch gut drei Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine lieferten die beiden skandinavischen Staaten ihre Aufnahmeanträge bei der Nato ab. Die Zuerkennung des "Invitee"-Status ließ nicht lange auf sich warten: Beim Nato-Gipfel stimmten alle 30 Mitgliedstaaten Ende Juni für eine Norderweiterung des Verteidigungsbündnisses.

Foto: picture alliance/AP/Bernat Armangue

Erleichterung beim Nato-Gipfel: Mit Handschlag bestätigen Außenminister Cavusoglu und Schwedens Ministerpräsidentin Andersson ein zuvor beschlossenes Memorandum.

Bei den nun hochoffiziell "Eingeladenen" hielt sich die Freude über dieses Tempo aber doch in Grenzen, als der Eintrittspreis unerwartet hoch ausfiel: Wie Blitz und Donner schlugen in Helsinki und Stockholm die Forderungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach "mehr Terrorbekämpfung" ein - gemeint waren die Verfolgung und Auslieferung kurdischer Oppositioneller und Waffenexporte in sein Land.

Nach ihrem weitgehenden Entgegenkommen und dem grünen Licht aus Ankara können sich Finnland und Schweden an der neuen Nordflanke jetzt als praktisch aufgenommen betrachten. Sie haben Teilnahmerecht bei sämtlichen Nato-Meetings. Und dass die militärische Beistandsgarantie als Herzstück der Nato erst nach Abschluss der Ratifizierungsverfahren in allen Partnerländern in Kraft tritt, bringt nach bilaterale Beistandszusagen aus Washington und London im Norden niemanden um den Schlaf.

Verhaltene Reaktion aus Moskau

Überraschend verhalten ist die Reaktion von Wladimir Putin auf diese Nato-Erweiterung ausgefallen, mit der die in Schweden seit über 200 Jahren und in Finnland seit 1945 als Staatsfundament unantastbare Allianzfreiheit im Blitztempo entsorgt worden ist. Der Kreml-Chef meinte demonstrativ gelassen: "Es gibt nichts, was uns mit Blick auf eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der Nato Sorgen machen würde. Wenn sie wollen - bitte." Würden dort aber Truppen stationiert und Infrastruktur eingerichtet, müsse Russland "gespiegelt antworten". Das klang jedenfalls nicht nach unmittelbar bevorstehender Aggression.

Wie schnell allerdings Worte und Taten autoritär bis despotisch regierender Präsidenten die Richtung ändern können, demonstrierte sofort nach der Einigung beim Madrider Gipfel erneut Erdogan. Kaum hatte sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu mit der schwedischen Kollegin Ann Linde und dem Finnen Pekka Haavisto ein Memorandum mit der praktisch vollständigen Erfüllung aller Forderungen Ankaras - in vagen Formulierungen und juristisch nicht bindend - unterschrieben, legte Erdogan die Latte einfach höher. Plötzlich verlangt er die Auslieferung von 73 "terrorverdächtigen" Kurden und Mitgliedern der islamistischen Gülen-Bewegung aus Schweden statt bisher 21 (sowie zwölf aus Finnland). Ehe das nicht passiert sei, werde er dem türkischen Parlament ganz bestimmt nichts zur Ratifizierung vorlegen. Montenegro habe ja auch zwanzig Jahre auf die NATO-Mitgliedschaft warten müssen.


„Es gibt nichts, was uns mit Blick auf eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens in der Nato Sorgen machen würde. Wenn sie wollen - bitte.“
Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation

Erdogan will das Druckmittel zur eigenen internationalen Aufwertung innenpolitisch sowie vor allem gegenüber Washington augenscheinlich noch eine Weile weiter ausreizen. Niemand zweifelt aber daran, dass irgendwann auch in Ankara das Beitrittsprotokoll für die Nordlichter ratifiziert wird. So machen sich die Militärs schon daran, praktische Konsequenzen aus der Machtverschiebung an der Nordflanke vorzubereiten. Ohnehin haben Finnland und Schweden seit vielen Jahren unterhalb der Schwelle der Mitgliedschaft eng mit der westlichen Allianz kooperiert. So hält es jetzt Micael Bydén, Oberbefehlshaber der schwedischen Armee, "für eine natürliche Überlegung", eigene Soldaten zur Verstärkung von Nato-Einheiten ins benachbarte Baltikum zu schicken.

Hohe Verteidigungsbereitschaft in der finnischen Bevölkerung

Finnlands militärischen Wert für die Nato zeigt allein schon die 1.340 Kilometer lange Grenze mit Russland. Während sich Schweden spätestens seit der Neutralitätserklärung König Karl XIV. Johanns 1834 aus allen Kriegen einschließlich beider Weltkriege heraushalten konnte, haben die finnischen Nachbarn bittere Kriegserfahrungen mit dem Nachbarn im Osten. 1939 gab Stalin den Befehl zur Invasion mit dem anschließenden "Winterkrieg", gefolgt vom "Fortsetzungskrieg" ab 1941. Dass Helsinki beim Nato-Eintritt die geforderten zwei Prozent vom Bruttonationalprodukt (BNP) für das Militär einbringen kann, nie die Wehrpflicht abgeschafft hat und die Verteidigungsbereitschaft in der Bevölkerung mit 5,5 Millionen Menschen als hoch gilt, ist diesem geschichtlichen Hintergrund zuzuschreiben.

Schweden dagegen, mit fast doppelt so großer Einwohnerzahl, hat in den letzten Jahrzehnten kräftig abgerüstet. Die 2010 ausgesetzte Wehrpflicht gilt seit 2017 wieder. Das größte Land Skandinaviens wendet 1,2 Prozent vom BNP für das Militär auf und will die zwei Prozent bis 2028 erreichen. Legende geworden ist dazu der Satz des früheren Oberbefehlshabers Sverker Göranson aus dem Jahr 2012: "Gegen einen Angriff von außen können wir uns ungefähr eine Woche verteidigen." Die damals und auch noch bis kurz nach Beginn des Ukrainekrieges stets haushohen Mehrheiten in der Bevölkerung gegen einen Nato-Beitritt sind seit dem Frühjahr genauso klaren Mehrheiten dafür gewichen. Daran hat auch der Konflikt mit der Türkei wenig geändert.

Schwedischer Sozialdemokrat spricht von "Verrat an den Kurden"

In Schweden, dem Hauptadressat der türkischen Anklage als "Herberge für Terroristen", wirft die entgegenkommende Reaktion der Regierung aber doch für manche ein trübes Licht auf diesen Weg in eine "Wertegemeinschaft". "Der totale Sieg für Erdogan, eine Schande für Schweden und Verrat an den Kurden", empört sich der sozialdemokratische Veteran Pierre Schori aus der Partei von Premier Magdalena Andersson.

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Schori hatte als außenpolitischer Berater des 1986 ermordeten Olof Palme sowie danach als Minister und UN-Botschafter seine Glanzzeit, als Schweden für strikte Neutralitätspolitik stand und gegen die Atomwaffen der Nato genauso opponierte wie gegen die des Sowjet-Blocks. Die als Zweijährige mit den Eltern ins Land gekommene Yekbun Alp, jetzt aktiv in der Linkspartei, hat ihren Namen auf einer von türkischen Zeitungen veröffentlichten Liste von schwedischen Politikern gefunden, die angeblich mit der verbotenen kurdischen PKK zusammenarbeiten. Auch die Versicherungen Anderssons, niemals werde man eigene Staatsbürger an die Türkei ausliefern, ändert nichts an ihrer Reaktion: "Die Unruhe ist da, die krieg' ich nicht weg."

Der Autor ist Skandinavien-Korrespondent der "Frankfurter Rundschau".