Kritik aus Ankara : Türkei bleibt ein schwieriger und wichtiger Partner für die Allianz
Die Türkei sieht sich als eigenständige Macht, deren Zusammenarbeit mit Europa und USA nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bleibt auch nach der Einigung in der Nato auf die Aufnahme von Finnland und Schweden bei seiner Kritik am Westen. Die Frage stellt sich: Warum tut Erdogan sich das an, und warum lassen die Partner sich das gefallen?
Das Nato-Mitglied Türkei kauft auch in Russland Rüstungsgüter.
Immer wieder kritisiert Erdogan, Deutschland, Frankreich und andere europäische Länder seien "Nester" anti-türkischer Extremisten. Solche Äußerungen und die Einbestellung des schwedischen Geschäftsträgers wegen einer kurdischen Kundgebung in Stockholm zeigen, dass die Ursachen der Spannungen zwischen der Türkei und ihren Bündnispartnern jederzeit eskalieren können. Unterschiedliche Auffassungen über das Wesen eines Rechtsstaates und die Selbsteinschätzung der Türkei als eigenständige Macht, deren Zusammenarbeit mit Europa und USA nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann, können jederzeit neue Eskalationen auslösen. Nach dem Krach ist vor dem Krach.
Ankara wirft Europa und insbesondere Finnland und Schweden vor, im Umgang mit türkischen Regierungsgegnern zu lasch zu sein. Die beiden Nordländer sind Zufluchtsorte für Erdogan-Gegner aller Art, von pazifistischen Intellektuellen bis zu Aktivisten aus dem Dunstkreis der terroristischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Bewegung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen. Deshalb drohte Erdogan im Mai mit seinem Veto zum Nato-Beitritt der beiden Länder. Beim Nato-Gipfel in Madrid einigte er sich dann mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö und der schwedischen Ministerpräsidentin Magdalena Andersson schließlich auf einen Kompromiss. Finnland und Schweden sagten eine härtere Gangart gegen "Terroristen" zu. Im Gegenzug machte die Türkei den Weg für die Nato-Norderweiterung frei.
Äußerungen und gewaltfreie Aktionen werden als "Terrorismus" verfolgt
Nach türkischer Auffassung hält sich aber vor allem Schweden nicht an die Zusagen. Andersson hatte nach Erdogans Angaben in Madrid die Auslieferung von 73 türkischen Regierungsgegnern zugesagt. Doch Anderssons Regierung ist an die Entscheidung schwedischer Gerichte gebunden. Zwei Wochen nach dem Gipfel verweigerten schwedische Richter die Auslieferung eines prominenten Gülen-Anhängers, der zu den 73 Personen auf der türkischen Wunschliste gehörte. Weil in der Türkei kein Rechtsstaat im europäischen Sinn existiert und sogar gewaltfreie Äußerungen und Aktionen als "Terrorismus" verfolgt werden, entscheiden Richter in der EU häufig gegen Auslieferungen an Ankara. Das wird sich auch nicht ändern. Finnland und Schweden verankerten in der Einigung mit der Türkei einen Hinweis auf den europäischen Rechtsrahmen für Auslieferungen: Dieser Hinweis sei die wichtigste Passage in dem dreiseitigen Dokument, schrieb der Erdogan-kritische Kommentator Yalcin Dogan in einem Beitrag für die türkische Nachrichtenplattform T24.
Washington hatte die Türkei aus F-35-Programm ausgeschlossen
Streit gibt es auch um die Forderung der Türkei nach amerikanischen Kampfflugzeugen vom Typ F-16, die von Ankara mit dem Thema der Norderweiterung verknüpft wurde. Der Kongress in Washington muss der Lieferung zustimmen, was wegen der vielen Türkei-Kritiker unter den Abgeordneten und Senatoren unsicher ist. Während die Türkei auf die F-16-Entscheidung wartet, bemüht sich ihr Nachbar Griechenland um die Lieferung von 20 wesentlich moderneren F-35-Kampfjets aus den USA. Die Türkei darf keine F-35 haben: Washington hatte die Türkei aus dem Programm ausgeschlossen, weil sie das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft hat. Der Streit um die Kampfflugzeuge heizt die türkisch-griechische Rivalität in der Ägäis an. Erdogan drohte Athen mit Krieg und will nicht mehr mit dem griechischen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis sprechen.
"Erdogan braucht Themen, die ihn wieder in die Offensive bringen können."
Auch künftig dürfte Erdogan im Streit mit anderen Nato-Partnern auf kontroversen Positionen verharren. Erstens profitiert er innenpolitisch, wenn er sich Nationalisten zu Hause als Wahrer türkischer Interessen in der Auseinandersetzung mit dem Westen präsentiert. Weniger als ein Jahr vor den nächsten Wahlen steckt seine Regierung wegen der Wirtschaftskrise im Umfragetief - Erdogan braucht Themen, die ihn wieder in die Offensive bringen können.
Türkei für den Westen unverzichtbar?
Zweitens stimmen Oppositionelle in der Türkei mit Erdogan in der Ansicht überein, dass berechtigte Interessen des Landes von westlichen Partnern ignoriert werden. Dazu gehört der Kampf gegen die PKK. Wenn ein Staat wie Schweden es PKK-Anhängern erlaubt, Geld zu sammeln und Anhänger zu werben, ärgert das in der Türkei nicht nur Erdogan.
Drittens betrachtet Erdogans Regierung ihr Land als für den Westen unverzichtbar: Die Türkei kontrolliert die Zufahrt zum Schwarzen Meer, was im Ukraine-Krieg wichtig geworden ist, hält Flüchtlinge aus Nahost und Asien aus Europa fern und dient als Transitgebiet für Energielieferungen aus Zentralasien nach Westen. "Ich will mir die Nato ohne die Türkei nicht einmal vorstellen", sagte Ben Hodges, ein früherer Befehlshaber der US-Armee in Europa, dem britischen Magazin Economist.
Der Beitritt der beiden skandinavischen Staaten zur Nato ist beschlossene Sache, doch die Türkei spielt weiter auf Zeit.
Die russische Regierung behauptet seit 2007, die Nato habe sich verpflichtet, keine neuen Mitglieder aus postkommunistischen Staaten aufzunehmen.
Ein Austritt der Türkei aus der Nato kommt auch für den Präsidenten trotz aller Reibereien nicht in Frage. Der Schutz durch die Allianz, besonders durch die USA, ist für die Türkei eine wichtige Rückversicherung - wegen der direkten Nachbarschaft mit Krisenländern wie Syrien, aber auch für den Fall neuer Spannungen mit Russland.
Die Autorin arbeitet als Korrespondentin in Istanbul.