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Nato-Erweiterung : Moskaus eigene Logik

Die russische Regierung behauptet seit 2007, die Nato habe sich verpflichtet, keine neuen Mitglieder aus postkommunistischen Staaten aufzunehmen.

08.08.2022
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5 Min
Foto: picture-alliance/dpa/Michail Klimentjew

Alles im Blick? Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergej Schoigu während einer Militärparade der Russischen Seekriegsflotte in Murmansk nahe dem Polarkreis.

Die Beitritte neuer Mitglieder sind für die Nato in den vergangenen 70 Jahren eher die Regel als die Ausnahme gewesen. Mit ihrer "Politik der offenen Tür" trug sie dem Recht eines jeden Landes Rechnung, die Mitgliedschaft in einer Militärallianz frei zu wählen, und stützt sich dabei auf Artikel 10 des Nato-Vertrages, der festlegt, dass die Mitgliedschaft jedem "europäischen Staat offen steht, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Raums beizutragen". Auch wenn die Aufnahme neuer Mitglieder zu einer Art Alltagsroutine der Allianz geworden ist, unterscheiden sich doch die konkreten politischen Umstände. Sie reflektierten das jeweilige geopolitische Umfeld und die spezifischen strategischen Überlegungen des jeweiligen Beitritts.

"Osterweiterung" bereits Anfang der 1990er Jahre Gegenstand kontroverser Debatten

Dies gilt auch für die Aufnahme einer Reihe von mittel- und osteuropäischen Ländern seit 1999, die umgangssprachlich, aber sachlich falsch als "Osterweiterung" bezeichnet wird. Denn nicht die Nato als Institution erweitert sich gezielt und mit strategischem Kalkül, einzelne Staaten beantragen die Mitgliedschaft in der Allianz. Zudem wird heute gerne vergessen, dass die "Osterweiterung" bereits Anfang der 1990er Jahre Gegenstand kontroverser Debatten innerhalb der Nato war, viele der Argumente von damals klingen bis heute nach. Zugunsten der Erweiterung wurden vor allem institutionelle Argumente vorgebracht: Die Nato stelle für diese neuen Demokratien einen sicherheitspolitischen Anker dar. Durch die Ausweitung ihrer Sicherheitsgarantien verhindere die Allianz nationalistische Alleingänge und könne demokratische und marktwirtschaftliche Reformen in ganz Europa stärken, so wie sie es seit 1949 für Westeuropa getan hatte.

Gegen die Erweiterung wurden vor allem zwei Argumente vorgebracht: Das erste betraf die möglichen Auswirkungen auf die Nato selbst. Wenn der Kreis der Allianzmitglieder vergrößert würde, bestünde die Gefahr, dass die Glaubwürdigkeit ihrer sicherheitspolitischen Garantien verwässert werde. Irgendwann werde die Nato so groß und vielfältig, dass sie eher eine politische Vereinigung als eine militärische Organisation sei, deren Verpflichtungen eher deklaratorisch als real wären.

Verzicht auf eine Notfall-Planung für die Ostgrenze

Vor allem aber prophezeiten zweitens die Gegner einer Nato-Erweiterung, dass diese eine feindselige Reaktion Russlands hervorrufen, die Position der demokratischen Kräfte in Moskau schwächen und den antiwestlichen Nationalisten den Rücken stärken würde. Sie befürchteten, dass die Erweiterung somit zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werde, die ein feindseliges Russland hervorrufen werde, dem man dann robust entgegentreten müsse, was eine politische Spaltung Europas zur Folge haben werde. Dass der Beitritt von Staaten des postkommunistischen Europa zur Nato die russischen Interessen berühren könnte, stellte die Allianz also von Beginn an in Rechnung.

Nicht zuletzt, um entsprechende Bedenken abzufedern und Moskaus besondere Stellung in und für die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur zu unterstreichen, strebte die Nato die 1997 unterzeichnete Nato-Russland-Grundakte und den 2002 eingerichteten Nato-Russland-Rat an, in dem Dialog und Kooperation Vertrauen auf beiden Seiten schaffen sollten. Russland bekam Sitz und Zutritt im Nato-Hauptquartier, richtete dort einen militärischen und diplomatischen Stab ein, wurde zu allen relevanten sicherheitspolitischen Entscheidungen konsultiert. Die Nato sicherte zu, weder Atomwaffen noch Truppen von mehr als einer Division noch Kommandozentralen in den beigetretenen Ländern einzurichten. Als Zeichen ihrer defensiven Haltung verzichtete die Allianz auf eine Notfall-Planung für ihre Ostgrenze. 2008 verhinderten Deutschland und Frankreich schließlich die Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato - aus Rücksicht auf russische Sicherheitsinteressen


„Die Russische Föderation ist die größte Bedrohung für Sicherheit und Frieden.“
Strategisches Konzept der Nato, Juni 2022

Zwar haben sowohl Politiker als auch Wissenschaftler in dieser kooperativen Phase der Nato-Russland-Beziehungen auch die Möglichkeit einer russischen Mitgliedschaft in der Allianz vereinzelt thematisiert, aber beide Seiten haben diese Option nicht ernsthaft verfolgt. Die militärischen und politischen Strukturen Russlands, die von antiwestlichem Denken geprägt waren, verhinderten letztlich, dass Moskau einen Beitrittsantrag stellte. Zudem lenkten die Terroranschläge vom 11. September 2001 die politische Aufmerksamkeit weg von Fragen der euro-atlantischen Sicherheit.

Putin: Beitritt der baltischen Staaten "keine Tragödie"

Vor allem Vertreter der russischen Regierung behaupten seit 2007 immer wieder, die Nato habe sich gegenüber Moskau verpflichtet, keine neuen Mitglieder aus Osteuropa aufzunehmen. Dieses Versprechen habe das Bündnis in der Folgezeit gebrochen und damit Russlands zu einer Reaktion provoziert. In dieser Logik ist der russische Krieg gegen die Ukraine das Ergebnis einer westlichen Politik, die Russland eingekreist und gedemütigt habe. Ein derartiges formelles Versprechen hat es aber nie gegeben, und diese Behauptung ist bestenfalls ein Missverständnis und schlimmstenfalls eine Umschreibung der Geschichte. Moskau verzerrt hier die Fakten, um einen antiwestlichen Konsens im eigenen Land aufrechtzuerhalten.

Denn eine solche Zusage hätte nicht zuletzt gegen die OSZE-Gründungsakte verstoßen, die ihren Unterzeichnern das Recht einräumt, "Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein". Schließlich sollte ein einfaches Argument zu denken geben: Wenn Zusicherungen derartigen Gewichts gegeben worden wären, kann man dann ernsthaft glauben, dass Moskau nicht darauf bestanden hätte, dass sie in schriftlicher Form fixiert und veröffentlicht worden wären? Außerdem hat sich der Kreml über lange Zeit nie wirklich über die Nato-Erweiterung beschwert. So forderte im Jahr 1997 Russland die USA ergebnislos auf, die Aufnahme ehemaliger Sowjetrepubliken in das Bündnis abzulehnen. Dies hielt Moskau jedoch nicht davon ab, 1997 die Nato-Russland-Grundakte zu unterzeichnen. Als 2002 offiziell beschlossen wurde, die baltischen Staaten zum Beitritt einzuladen, erklärte Präsident Putin, dass ihr Beitritt "keine Tragödie" sein werde. Im selben Jahr begrüßte Moskau die Einrichtung des Nato-Russland-Rates.

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Minimalprogramm zwischen der Nato und Russland

Im Dezember 2021 veröffentlichte der Kreml zwei Vertragsentwürfe, von denen einer mit den USA und der andere mit der Nato unterzeichnet werden sollte: Moskau machte darin seinen Willen deutlich, die gesamte Sicherheitsarchitektur nach dem Kalten Krieg zu revidieren. Insbesondere verlangte der Kreml, dass die Nato neue Mitglieder im Osten ablehne und die Streitkräfte abziehe, die sie auf dem Territorium ihrer jüngsten Verbündeten stationiert hat. Gleichzeitig bemüht sich Moskau um eine Stärkung der im Jahr 2002 gegründeten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). Mitglieder sind Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Weißrussland. Obwohl formell ein Bündnis gleichberechtigter Partner, wird es von Russland dominiert. Die Organisation ist vor allem als Instrument zur Beeinflussung der Sicherheitslage im postsowjetischen Raum und als Gegengewicht zur Nato nützlich für Russland. Deswegen hat der Kreml ihre Rolle jüngst ausgeweitet, so im Januar 2022, als Massendemonstrationen gegen die Regierung in Kasachstan zur Entsendung von russischen Truppen unter Federführung der OVKS führten.

Der russische Krieg gegen die Ukraine hat dieses konfrontative Momentum noch beschleunigt, was sich auch im Juni 2022 verabschiedeten neuen strategischen Konzept der Nato widerspiegelt: "Die Russische Föderation ist die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner sowie für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum." So bedauerlich dies ist - euro-atlantische Sicherheit muss auf nicht absehbare Zeit gegen Russland organisiert werden. Was bleibt ist ein Minimalprogramm zwischen der Nato und Russland: Sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen sowie Gespräche über Abrüstung und Rüstungskontrolle.
 

Markus Kaim ist Politikwissenschaftler Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.