60 Jahre Elysée-Vertrag : In Paris herrscht Stimmung wie beim Klassentreffen
Abgeordnete aus Deutschland und Frankreich haben in Paris 60 Jahre Élysée-Vertrag gefeiert. "Das Parlament" hat sie begleitet.
Erst Feiern in der Pariser Sorbonne (o. li.), dann Arbeiten in der Nationalversammlung: Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (o. re.) durfte am Jubiläumstag einen Teil der Sitzung in der Assemblée nationale leiten.
Im Grand Salon der Pariser Sorbonne-Universität duftet es nach Kaffee und frischen Croissants. Wo sonst Ehrentitel verliehen und neue Mitglieder der altehrwürdigen Gelehrten-Gesellschaft Académie Française ihr traditionelles Schwert erhalten, stehen an diesem Sonntagmorgen rund 200 Abgeordnete von Bundestag und Nationalversammlung in Grüppchen zusammen, schütteln Hände, begrüßen sich mit Wangenküsschen und posieren vor ihren Smartphone-Kameras. Ein heiteres deutsch-französisches Stimmengewirr hallt durch den prachtvollen Saal - Klassentreffen-Stimmung im Herzen von Paris.
Festakt an der Sorbonne
60 Jahre Freundschaft feiern beide Länder heute, zum Festakt in der Universität haben die Parlamente Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron eingeladen, außerdem 80 Jugendliche aus deutsch-französischen Schulen, die sich mal in Jeans und Pulli, mal in Anzug und Hemd gekleidet, unter die Feiernden mischen. Für sie, aber auch für die 120 angereisten Bundestagsabgeordneten, ist es ein besonderer Tag. "Ganz wunderbar", sagt Gunther Krichbaum (CDU). "So eine Gastfreundschaft. Es ist wirklich eine Ehre, heute hier sein zu dürfen." Sein Parteikollege Klaus Mack, seit Herbst 2021 neu im Bundestag, ist das erste Mal bei einer so großen Veranstaltung des Parlaments dabei. "Ich bin sehr gespannt", sagt der 49-Jährige, und fügt hinzu: "Es ist wichtig, dass wir uns persönlich begegnen und besser kennenlernen." Er findet, der deutsch-französische Motor sei zuletzt etwas eingeschlafen. "Er braucht neue Impulse, auch aus den Parlamenten."
Gelegenheit zum Kennenlernen
Die französische Abgeordnete Brigitte Klinkert bahnt sich einen Weg durch den Saal und strahlt dabei über das ganze Gesicht. "Es ist so schön, dass wir alle hier zusammen sind", sagt die Elsässerin mit charmantem französischem Akzent. Die Hand auf das Revers ihres Mantels gelegt, gesteht sie ein wenig verlegen: "Ich hatte heute früh Tränen in den Augen. Es ist ein besonderer Tag, für mich und für die deutsch-französische Freundschaft."
Die deutschen Abgeordneten sind zwischen zwei Sitzungswochen nicht allein zum Feiern nach Paris gereist. Am Rande des Festakts und einer gemeinsamen Parlamentssitzung wollen sie jede Gelegenheit nutzen, um sich mit ihren französischen Kollegen auszutauschen und sich besser kennenzulernen. "Das ging in Videokonferenzen während der Pandemie ja nicht so gut", sagt Sandra Weeser, die seit 2017 für die FDP im Bundestag sitzt und seit vier Jahren auch einen französischen Pass hat. Die deutsch-französischen Beziehungen seien ins Stottern geraten, bedauert sie. Anders als Macron zögere Scholz noch, seine Rolle als Impulsgeber in Europa anzunehmen. Deshalb müssten die Parlamentarier "die Regierungen jetzt antreiben und zum Handeln auffordern".
Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen
Kurz darauf nehmen Abgeordnete und Schüler im größten Hörsaal der Sorbonne Platz, ganz vorn fast das gesamte Bundeskabinett, die Fraktionsspitzen und die Mitglieder der Parlamentspräsidien. Es ist kühl unter der mächtigen Glaskuppel des Barockbaus, viele haben ihren Schal um den Hals gewickelt, als erst die beiden Parlamentspräsidentinnen, Yael Braun-Pivet und Bärbel Bas (SPD), dann Scholz und Macron ihre Reden halten. Es geht viel um Erinnerung und Vergangenheit, aber noch mehr um die Zukunft der Beziehungen und die Frage: Was kann, was muss die deutsch-französische Freundschaft leisten, um die großen Aufgaben unserer Zeit, Klima, Energie, Verteidigung, zu bewältigen? Die Partnerschaft der Nachbarn spiele bei der Suche nach europäischen Lösungen eine "Schlüsselrolle", betont Bas. Die Parlamente sieht sie hierbei "in einer besonderen Verantwortung". Um das zu bekräftigen, hat sie zusammen mit Braun-Pivet eine Erklärung verfasst. Beide Häuser wollen danach noch enger zusammenarbeiten, auf allen Ebenen: Präsidien, Ausschüsse, Parlamentariergruppen, Verwaltungen.
Enge Beziehungen der Parlamente
Dabei sind die Kontakte schon seit 2019 so intensiv wie nie. Nach Abschluss eines Parlamentsabkommens gründeten Bundestag und Nationalversammlung die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung (DFPV), heute geleitet von Brigitte Klinkert und Nils Schmid (SPD). Die Mitglieder treffen sich mindestens zweimal im Jahr, befragen Ministerinnen und Minister und fassen gemeinsame, wenn auch nicht bindende Beschlüsse. In Arbeitsgruppen wollen sie konkrete Vorschläge unter anderem zur Zukunft Europas, zur Energiesouveränität und der Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht erarbeiten. Keine zwei Parlamente in Europa stehen sich so nah.
Allerdings sind die Abgeordneten in den vergangenen vier Jahren nicht so gut vorangekommen, wie sie es sich gewünscht haben. Wegen der Pandemie konnten die meisten der bislang elf Sitzungen nur digital stattfinden. 2021 und 2022 wurden in beiden Ländern die Parlamente neu gewählt; in Frankreich verlor die Regierungspartei dabei ihre Mehrheit.
"Themen nicht allein den Regierungen überlassen"
"Die Umstände waren natürlich ungünstig", erzählt Sabine Thillaye nach dem Festakt in der Sorbonne. Die französische Abgeordnete, geboren in Remscheidt und Vorgängerin von Klinkert als DFPV-Vorsitzende, hofft aber, dass die Versammlung bald Ergebnisse wie gemeinsame Gesetzesinitiativen präsentieren kann. "Wir können die Themen nicht allein den Regierungen überlassen. Wir sind der Gesetzgeber und müssen jetzt zur Sache kommen", sagt sie entschlossen.
Wie wichtig dafür gute persönliche Beziehungen zwischen den Abgeordneten sind, betont die Grünen-Abgeordnete Chantal Kopf. "Nähe schafft mehr Verständnis für andere Perspektiven", ist sie überzeugt. Seit die 27-Jährige Freiburgerin vor anderthalb Jahren in den Bundestag eingezogen ist, arbeitet sie in der DFPV - und macht viele Themen aus, bei denen diese sich noch stärker engagieren könnte: grenzüberschreitende Zusammenarbeit zum Beispiel beim Bahnverkehr, bei Gesundheit, Bildung. Auch für Städtepartnerschaften, Französisch-Unterricht an den Schulen und Schüleraustausche sollten sich mehr Abgeordnete einsetzen, findet Kopf. Wie viele hier ist sie besorgt, dass immer weniger Kinder in Deutschland und Frankreich die Sprache des Nachbarlandes lernen wollen.
Austausch bei Wein und Häppchen
Für den zweiten Teil des Jubiläumsprogramms eilen die Abgeordneten zu den Bussen, die sie durch die Pariser Innenstadt zum Sitz des französischen Parlaments bringen. Bei Wein und Häppchen nutzen sie in der prächtigen "Galerie des Fetes" die Pause, um sich auszutauschen. An einem der Tische parliert eine schmale, ältere Dame auf Französisch mit einem Abgeordneten der Assemblée: Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Was sie hier macht? Die 87-Jährige lacht. "Ach, ich habe noch so viele Kontakte hier."
Die CDU-Politikerin hat an der Sorbonne studiert und 1996 die Ehrendoktorwürde der Universität erhalten. Kurz nach dem Mauerfall, im Oktober 1989, reiste sie mit Frankreichs damaligen Parlamentspräsidenten Laurent Fabius nach Moskau zu Gorbatschow und demonstrierte damit in einer Zeit des Umsturzes deutsch-französischen Zusammenhalt. "Die Arbeit der Parlamente ist unverzichtbar", sagt Süssmuth, und erzählt eine Geschichte, die einmal mehr das Wunder der deutsch-französischen Versöhnung illustriert. Als Studentin habe sie Ende der 1950er Jahre als Au Pair-Mädchen bei einer Anwaltsfamilie in Paris gearbeitet. Die habe eigentlich kein deutsches Mädel bei sich zu Hause haben wollen. "Es war ihnen so unangenehm", berichtet Süssmuth, "dass sie mich versteckt haben, wenn Besuch kam."
Sitzung von Nationalversammlung und Bundestag
Ein schriller Ton lässt die Gespräche verstummen - die Abgeordneten sollen sich in den Plenarsaal begeben. Während sie sich in den engen Sitzreihen, die im Halbkreis steil nach oben ansteigen wie in einem Opernsaal, ungeachtet von Fraktionszugehörigkeit oder Nationalität verteilen, wird Bundestagspräsidentin Bas Zeugin des Zeremoniells zur Sitzungseröffnung: Von einer Ehrenkompanie der Republikanischen Garde begleitet, geht sie an der Seite von Braun-Pivet zu einer kleinen Rotunde. Trommelwirbel, die Soldaten zücken die Säbel und bilden ein Spalier, erst dann schreiten die beiden Frauen weiter in den "Hémicycle". Die Debatte beginnt, nachdem die französische Parlamentspräsidentin auf einem Sessel hoch über dem Rednerpult Platz genommen hat. Zwei Stunden lang sprechen die Abgeordneten in der ersten gemeinsamen Arbeitssitzung ihrer Geschichte über aktuelle Herausforderungen und Hilfen für die Ukraine. Einige berichten vom Liebeskummer beim Schüleraustausch in Paris, andere vom Glück deutsch-französischer Ehen. Nur kurz kippt die harmonische Stimmung, als der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter den Versammelten vorwirft, die EU gegen die Interessen der Bürger zum Superstaat formen zu wollen. Als Braun-Pivet ihrer deutschen Kollegin zur Halbzeit die Sitzungsleitung überträgt, ist diese sichtlich gerührt: "Das ist wirklich eine große Geste deutsch-französischer Freundschaft, dass ich heute diesen Platz übernehmen darf", sagt Bas unter dem Beifall der Abgeordneten.
Interesse an beiden Sprachen geht verloren
Während die Präsidentinnen noch Fragen der Jugendlichen beantworten, machen sich die Parlamentarier am frühen Abend auf dem Rückweg zum Flughafen. Klaus Mack sitzt nachdenklich im Bus. "Dass es immer weniger Schüleraustausche gibt und das Interesse an beiden Sprachen verloren geht, ist nicht gut", sagt der CDU-Politiker. "Beides ist wichtig, um ein besseres Verständnis füreinander zu entwickeln." Mack will sich im Bundestag und in seinem Wahlkreis Calw nun stärker dafür einsetzen. Schon morgen früh beginnt die neue Sitzungswoche.